In manchen Städten,
besonders in solchen mit reicher und abgründiger Vergangenheit, erlebe ich
immer wieder, dass die scheinbar solide Fassade der aktuellen Wirklichkeit
dünner wird, durchsichtiger, dass ich stolpere und mich ein paar Schritte in
eine andere Zeit, eine längst vergangene Welt verirre.
Kyoto, die alte
Kaiserstadt, scheint mir von derlei Zeitlöchern übersät zu sein, was sich auch
bei unserem heurigen Besuch zeigte.
Irgendwie scheint der
kontinuierliche Faden der linearen Zeit immer wieder zerrissen. Diese Zerreißbarkeit
der Zeit bleibt mir spürbar, auch wie wir in Kyoto eingetroffen vor dem von
Hara Koji geplanten Bahnhofsgebäude ein Taxi besteigen und durch die Hauptstraßen
einer auf den ersten Blick nichtssagenden, modernen Stadt fahren. Dabei weiß
ich doch schon aus der Erinnerung, welch geheimnisvolle Gärten und Tempel,
welch unwirklicher Zauber sich hinter diesen Häuserzeilen verbirgt.
Beim Überqueren des
Kamoflusses wird die nichtssagende Gegenwart kurzfristig transparent. Vor den
im Mittagslicht schläfrig und fad wirkenden Restaurants von Pontocho stolziert
im Fluss, zwischen ein paar Schilfinseln ein Reiher umher. Vielleicht derselbe
Reiher den wir ein paar Tage später am goldenen Pavillon des Kinkaku Ji sehen.
Der Taxilenker
erzählt unterdessen, dass er auch eine Tauchschule betreibe und ich versuche
den Scherz, dass Florian und ich als Psychoanalytiker gewissermaßen auch
Taucher seien, im seelischen Meer sozusagen, he he. Aber ich bin unsicher ob
der matte Witz nicht eh in den Problemen der unermüdlichen Übersetzung Junkos
hängen geblieben ist.
Das nächste irgendwie
unwirkliche Erlebnis ist der Besuch im winzig wirkenden Wohnzimmer hinter der
ohnedies kleinen Apotheke Chizukos.
Die liebenswürdige
Chizuko und ihre Mutter, finden ohnehin kaum Platz zwischen den Gläsern,
Pillen, Dragees und Salben, zwischen Vitaminsaftflaschen und Antibiotika. Dazu
kommt aber noch die Kücheneinrichtung, zahlreiche Erinnerungsstücke, vor allem
vom geliebten Wien. Es grenzt an ein Wunder, dass wir zu fünft, nach Ablegen
der Schuhe und Überwindung einer kleinen Treppe, auch noch in die Hexenküche
hineinpassen. Aber dann klappt es sogar mit Tee , selbstgebackener Linzertorte und
einem Gespräch über die Wiener Philharmoniker.
Der
geheimnisumwitterte Garten Hekates auf der Kolchis erscheint in meiner
Fantasie, dieser Garten, in dem neben den Heilkräutern auch todbringende
Giftpflanzen wachsen.
Im Vergleich mit
dieser Hexenküche wirkt sogar das Holzhaus in einer engen, altertümlichen
Gasse, nur ein paar Schritte entfernt, weiträumig.
Es handelt es sich um
ein sogenanntes Aalhaus, weil es sich von einer sehr schmalen Fassade relativ
weit nach hinten erstreckt, wie die Häuser alter burgenländischer Dörfer.
Auch das Ryokan der
Vermieterin, gleich daneben, ist ein derartiges Aalhaus, angeblich war es
früher ein erotisches Teehaus für Geishas. Die Vermieterin meint, sie habe auch
viele vergilbte Fotografien des lüsternen Treibens in der Vergangenheit
gefunden, uns zeigt sie allerdings nur die Porzellankatze, die auf einem
verhüllten Penis kauert, der jedoch zu sehen ist, wenn man die Statuette mit
der Katze umdreht.
Während ich, mit ein
wenig geheuchelter Begeisterung das zweite Frühstück, bestehend aus
ungesalzenem Reis, Misosuppe, Essiggemüse, Yuba, Tofu und diversen
undefinierbaren Geheimspeisen hinunterwürge, begleitet von Lenas Geklimpere auf
einer Spielzeuggitarre, denke ich mit leiser Wehmut an Burgi und Florian, die
in einem nahegelegenen, eher europäischen Kissaten, auf Sesseln sitzend einen
Kaffee schlürfen.
Wir verzichten
darauf, uns vom Balkon des Kyomizu Dera herunterzustürzen, bummeln abends noch
zum Yasakaschrein und zum Tor des Shoren in und träumen beim Duft der Tatamis
vom alten Kyoto.
Für Dienstag hat
Hirohisa Mori, ein Schulfreund Junkos, auch eine Erscheinung aus dem
Zwischenreich außerhalb der kompakten trivialen Realität ein Spezialprogramm
zusammengestellt. Es war sehr schmeichelhaft für mich, dass er mir sein 706
Seiten starkes, sicher 1kg schweres Werk
über „Gobalbase Architecture“ zusandte, voller Bilder und komplizierter
mathematischer Formeln.
Vom elegant
livrierten Chauffeur werden wir im komfortablen Kleinbus zur Besichtigung der
Katsura-Kaiservilla gefahren. Während der Führung durch den unglaublichen
Garten mit seinen alle paar Schritte wechselnden, traumhaften Ausblicken wird
ein Teil der Gruppe zum Matsuo-Schrein geführt, wenn ich es recht verstehe ein
irgendwie den Teufeln des Sake verbundenes Heiligtum.
Imaginäres und Reales
beginnen verstärkt zu oszillieren, bewegen wir uns durch ein
Landschaftsaquarell, eine Ukioye oder haben wir, spätestens in der Kakiplantage
und bei der schlitzäugigen Wirtin schon wieder festen Boden unter den Füßen?
Gegen Abend erwartet
uns an der Togetsubrücke in Arashiyama der dämonische Kobold Prof. Monta Hayakawa.
Die Lippen von einem dezenten Shunga-Lächeln umspielt ,erinnert er mich mit
seinen buschigen Augenbrauen und Katzenaugen sofort an den Advokaten Coppelius
in ETA Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“, über die ja S.Freud seinen Aufsatz
über das Unheimliche verfasst hat.
Um uns zu Verzaubern,
hat er eine Bootsfahrt auf dem Oi-Fluß geplant, die jedoch, infolge eines
Wolkenbruches buchstäblich ins Wasser fällt.
Unverzagt führen er
und Mori unsere kleine Gruppe in eine Taverne am Flussufer von der aus man
unter roten Lampions einen Ausblick auf den im Regen dahinströmenden Fluss
genießt. Nach diversen, teils englischen, teils von Junko immer wieder
übersetzten fragmentarischen Unterhaltungen, nach Kaffee, Machaeis und einer
kleinen Tangoperformance auf der vorgelagerten Terasse, wird die so genannte
Führung durch den magischen Hayakawa-Coppelius fortgesetzt.
Ein Gedenkstein für
die schöne Akashi no Kimi, die dem Prinzen Genji ein Mädchen geboren hatte, mit
dem sie sich versteckte und dann, was für romantische Story!, von einem Diener
mit Hilfe einer Kennmelodie, mir scheint auf Flöte, oder war es eine Koto?,
aufgespürt wurde, beeindruckt den, mit derlei traditionellen Legenden
vertrauten Florian offenbar besonders.
Mir gefallt Hayakawas
Behauptung, dass bei einem Konzert im Tenryu Ji, vor dem großen Karpfenteich,
das er zu ehren einer ausländischen Delegation veranstaltete, die Fische bei
ganz bestimmten Flötenpassagen aus dem Wasser zu springen begonnen hätten.
Durch den berühmten,
milchig-blaugrünen, verregneten Bambushain, vorbei an kleinen Shintoschreinen
die zinnoberrot im Regen glänzen, über die Gleise der Kleinbahn und durch die
Vorstadt führt der ständig lächelnde , aber doch unheimliche Magier uns in
Richtung zum großen grünen Affenberg. Die Häuser verlieren sich, die Gruppe
zerstreut sich immer mehr, der Regen nimmt zu und schließlich bleiben wir im
Niemandsland vor einem großen Acker, in dessen Furchen sich das Regenwasser
gesammelt hat stehen. Was ist los denke ich - da weist Hayakama auf ein kaum
sichtbares, bemoostes Strohdach, halb unter alten Bäumen verborgen, das man in
der Dämmerung gerade noch hinter dem Acker erkennen kann.
Das sei die letzte
Rast des ruhelosen Dichtermönches Basho gewesen, wo er vor seinem Tod bei einem
Freund gewohnt habe.
Ich spüre, wie ich
wieder einmal den trügerischen Boden der Gegenwart unter den Füßen verliere,
wieder in ein Zeitloch geraten bin, von diesem Shunga-Dämon in die Falle
geführt.
Das letzte Haiku des
poetischen Landstreichers Basho aus einer Anthologie, die ich als Reiselektüre
mitführe, fällt mir ein :
Vom Wandern krank
Auf ödem Feld
Irrt mein Traum umher
Zur Erholung von
dieser gelungenen Erschütterung führt uns der katzenäugige Kobold in sein
eigenes Häuschen um uns bei Tee die Blumenaquarelle seines verstorbenen Vaters
zu zeigen, seines hochverehrten Vaters, der angeblich 1000 Wakas auswendig
kannte.
Danach übersiedeln
wir in das noble Restaurant Togetsutei dessen große Glasfenster sich zum Fluss
und zur alten Brücke hin öffnen. Bei einem komplizierten und vielfältigen Menü
werden wir von Mori mit Huroshiki Tüchern, in die unsere Namen gestickt sind,
beschenkt.
Tags darauf starten
wir zum klassischen Kyoto-Tempel-Marathon. Vom Nanzen Ji geht es über den
Philosphenweg zum Gingaku Ji , wo uns Junko und Lena nach dem Mittagessen
verlassen.
Aus dem Wunsch, mit
Florian und Burgi möglichst viel von Kyotos reichen Schätzen zu besichtigen,
fahren wir zum Daitoku Ji wo schon die stillen meditativen Steingärten mit
ihrer hintergründigen Symbolik zu Innehalten auffordern.
Aber Rainer treibt
weiter, es geht auch noch zur wichtigsten Ikone des touristischen Kyoto- Marathons,
zum goldenen Pavillon Kinkaku Ji. Beim Galopp durch dessen weitläufigen Garten
spüre ich, dass Burgi ab und zu, trotz aller Begeisterungsfähigkeit, genug
davon hat, von Tempel zu Tempel gezerrt zu werden. Vermutlich ist sie doch
daran gewöhnt programmatische Verantwortung für ihre zeitweise große, eigene
Familiengruppe zu übernehmen und es fällt ihr nicht immer leicht, mit wenig
Mitbestimmung als Reisegruppen-Mitläuferin passiviert zu werden. Aber das ist
Spekulation, jedenfalls kann ich mir gut vorstellen, dass ich, Rainer, von mir
selbst ziemlich genervt wäre, würde ich in ihrer Haut stecken.
Leider nur tangential
nehmen wir das reizende kleine Teehaus mit seinem bemoosten Strohdach, dem
alten Holz und der bukkolischen Stimmung wahr. Dabei gilt es als Prototyp der
japanischen Wabi-Sabi-Ästhetik.
Wabi die traurige,
einsame Verlorenheit, etwa der blühende Kirschzweig der mit Schnee bedeckt,
friert, Sabi bekanntlich so etwas wie Rost oder Patina, auch die Spuren des
Gebrauches durch die menschliche Hand, das Abgetragene eines alten
Kleidungsstückes etwa.
Gerade für diese
Botschaften, die wir ja von der Anakreontik über die Schäferspiele des Rokoko
bis hin zur Romantik wohl auch kennen, finden wir in unserem
Besichtigungsgalopp keine Muße.
Erst im nächsten Taxi
erfahren wir, dass in den weiteren angepeilten Tempeln – gottseidank – bereits
Sperrstunde ist und so steigen wir beim Heian Ji aus, schlendern von dort eher
müde vorbei an den knorrigen Kampferbäumen am Shoren in heim ins Ryokan.
Auf dem Weg zum
Abendessen durch die Gion-Strasse sehen wir wieder Gespenster vergangener Zeit,
Geishas und Maikos in Kimonos mit kunstvollen Frisuren huschen vorbei, wir
gehen bis ans Flussufer nach Pontocho, können aber wegen der kühlen Brise doch
nicht im Freien essen.
Der Pilgerweg durch
die tausend rotlackierten Torii auf dem Berg hinter dem Fushimischrein führt
uns auch zurück von Kyoto in die ältere Epoche Nara.
Die steile, letzte Schlinge
dieses einzigartigen Pfades gehen nur Florian und ich während Junko und Burgi
mit Lena im Schatten des Waldrestaurants
bleiben.
Unter den magischen
Toren, von den Inari-füchsen bewacht erzählt Florian mir ein wenig von seinem
schwierigen Werdegang durch die Initiationstore der jungianischen Schweizer
Analytiker, was mich in meinem Widerwillen gegen diese monopolitischen, wichtigtuerischen
Ausbildungsgesellschaften wieder einmal bestärkt.