Dienstag, 18. September 2012

Bunraku

Fragmentarische Eindrücke von einer vierstündigen Bunrakuaufführung im Nationaltheater neben dem Kaiserpalast.
(Nur die zwölfstündige Schattentheatervorstellung in Yogjagakarta und die achtstündige Mahabharata-Performance in Benares waren noch länger)
Durch die lange Dauer werden die Puppen und ihre Welt immer wirklicher.
Ein steinzeitlich wirkender Barde rezitiert, teilweise mit Tierstimme, Bauchreden, Stöhnen und Grunzen, die Handlung.
Sein wirklich wüstes Erdbebenlachen weckt archaische Gefühle.
Das leere Gesicht, sozusagen Minusgesicht der Puppenspieler hat allen mimischen Ausdruck, alle Psychomotorik den Puppen abgetreten, diese projektiv damit identifiziert. Der Spieler bleibt quasi als leere Hülse zurück.
Innere Vorgänge des Stückes, in den Puppen externalisiert, werden dabei in reiner, prototypischer , schematischer Weise sichtbar.
Die Puppe tanzt, weint, mordet und ihre Emotionen wirken reiner und tiefer als die Emotionen von uns Fleischmenschen, weil sie ungetrübt sind, auf das wesentliche reduziert.
Zum Klang des Shamisenorchesters werden die Figuren von Dämonen der Leidenschaft verhaftet und abgeführt.
Zugleich werden ihre Stimmen von den agierenden Gestalten gelöst.
Der Barde, Sprecher, oder besser sogar Sänger genannt, bringt den Text mit heftig outrierten Affekten zum Klingen. Wie gesagt sind Heulen, Jaulen oder Stöhnen noch schwache Bezeichnungen für diese, überaus körperlichen Urlaute, die an traditionelle indische Gesangstechnik erinnern.
Fünf Shamisen, gelegentlich klapperndes Holz oder eine Koto, ebenso wie Flöte und Gong begleiten den Gesang.
Drei Männer in schwarzer Kleidung bewegen die Puppen, zwei davon, die erst seit wenigen Jahren Bunraku praktizieren tragen schwarze Kapuzen. Diese beiden bedienen Beine und linken Arm. Der Meister, mit unverhülltem Gesicht, tadellosem Haarschnitt und starrer Miene bewegt Kopf, Mimik und rechte Hand.
Mitunter zweifelt der Betrachter, ob die Puppe den Spieler oder dieser die Puppe bewegt, so wie wir ja auch oft nicht wissen, ob wir Subjekt oder Objekt der Abläufe sind.
Je gespenstischer die Puppen aufleben, desto mehr verschwinden die bereits schwitzenden erschöpften Spieler im Hintergrund.
Das Stück handelt von einer unglücklichen Liebesgeschichte.
Eigentlich wollen wir, ermüdet von der langen Dauer und der Aufregung wegen Junkos Erkrankung, schon früher gehen. Da taucht Junko aus einem Hinterzimmer, wo sie sich etwas ausrasten durfte, doch wieder auf und will das Ende des Stückes noch sehen, den berühmten Schmetterlingstanz.
Die Seelen der toten Liebenden verwandeln sich in Schmetterlinge die einen bezaubernden Liebestanz vorführen.
Wunderbare Verwandlung der Liebenden ! Wie in Ovids Metamorphosen!
In nova fert animus mutatas dicere formas corpora.
Bei großen Szenen treten zugleich bis zu sieben, acht Puppen auf und während die Protagonisten, Fürsten und Samurai, ihre dramatischen Konflikte austragen, wäscht sich – vorne links – der kleine Ruderknecht in imaginärem Wasser sein Kopftuch, mit dem er zuvor seinen imaginären Schweiß abgewischt, seelenruhig, von den Aufregungen der großen Welt kaum berührt.
Weil die Bewegungen der großen Puppen mit den Händen gesteuert werden, die bekanntlich im Cortex über eine wesentlich größere Repräsentanz verfügen, können sie sehr fein nuanciert werden, vergleichbar dem Spielen auf einem Musikinstrument. Auch kann das idealtypische eines inneren seelischen Ablaufs vielleicht schärfer visualisiert werden.
Zudem sind die Puppen frei von der oft doch eitlen Selbstbespiegelung realer Schauspieler, was ja schon Kleist in seinem Aufsatz über das Marionettentheater angesprochen hat. Die Aktionen wirken dadurch gewissermaßen authentischer.

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