Dienstag, 18. September 2012

Auf der heiligen Insel Myashima


Schon bei der Anreise , irgendwo, fast nirgendwo, in der Vorstadt Osakas bleibt der Zug infolge einer Notbremsung plötzlich stehen. Der Himmel ist grau, ich sitze beengt neben einem fetten Japaner, Lena hat die Schuhe ausgezogen, liegt auf dem Sitz und saugt an Junkos Brust. Seitlich von mir sitzen Burgi und Florian, durchs Fenster erblicke ich einen zehnstöckigen Wohnblock.
Vermutlich hat der Zug einen Menschen überfahren, vielleicht hat dieser sich auch in suicidaler Absicht vor den Zug geworfen, über den Lautsprecher wird die Möglichkeit über den letzten Waggon auszusteigen annonciert.
Über eine Meerenge bringt uns ein Fährschiff dann zum großen, bei Flut im Wasser stehenden Tori des Itsukushimaschreins.
Miyajima ist eine Insel der Götter, Menschen dürfen dort weder Sterben noch Kinder gebären. 
Ich schaue mir die japanischen Touristenscharen auf der Fähre an, die ja, so wie unsere Reisegruppe, schon größtenteils ältere Baujahre sind, abgesehen von den vielen Schulklassen. Bitte auf der Insel nicht sterben ! denke ich. Hoffentlich halten sich alle brav daran.
Seltsam auch, dass in Sichtweite von dieser Insel mit göttlichem Sterbeverbot der Tod mit der Atombombe auf Hiroshima einen seiner grässlichsten Exzesse in der Geschichte feierte. Es muss entsetzlich gewesen sein wie sich die Haut von den verdursteten, verbrannten Menschen schälte, wie sich sogar die  schmelzenden Buddhastatuen aus Metall in Glut und Strahlung krümmten.
Vom Meer aus sehen wir den Gipfel des Misen-Berges. Oben wartet das gigantische, von den Göttern gebaute Steinheiligtum auf uns. Es ist eine Art von  megalithischem Stonehenge, oder ein riesiger Dolmen mit Menhiren, aber nicht von Menschen gebaut.

Derlei Naturheiligtümer göttlichen Ursprungs sind mir in Japan immer wieder begegnet.
Beispielsweise bin ich im abendlichen Dunkel in Ise nackt zu den durch ein mächtiges Shimenawaseil verknüpften verheirateten Felsen Izanami und Izanagi, den Ureltern aller Japaner, geschwommen. Oder ich habe magisch mit der linken Hand Steinchen ins Wasserbecken am Udo-Schrein der lokalen Krokodilsgöttin Toyotamabime geworfen. Die arme Göttin, die unter Zurücklassung ihres Säuglings und ihrer an die Wand der Grotte geklebten, versteinerten Brüste in die Meerestiefe abtauchen musste, weil ihr Gatte sie in Krokodilsgestalt erblickt hatte, die sie anlässlich der Geburt annehmen musste.
Oder ich bin  mit der noch kleinen Lena am Rücken zwischen tausenden von Steinmännchen vor der Höhle der gekränkten Sonnengöttin Amaterasu unter dem Amano Iwato Schrein durch die waldige Takachiho-Schlucht geklettert. Wohin man schaut heilige Höhlen, heilige Felsen, heilige Bäume und Quellen überall die lokalen Kami.
Der Mizen-Berg ist seit alters her voll mit derlei Spuk. Auf unserer Wanderung von der Seilbahnstation über seinen Bergrücken begegnen wir auf Schritt und Tritt kleinen und großen versteckten Statuen und Schreinen. Etwas oberhalb des ewigen Feuers im Reikado-Komplex, unter alten Bäumen, findet auch Florian seinen Seelentempel. Er nennt sich Dainichi Do, sieht ein wenig wie eine Schweizer Almhütte oder wie ein Försterhaus aus und ist in Schutztempel, in dem sich im Jänner die Mönche Myashimas versammeln.
Zwischen den beeindruckenden Felstoren und Felstürmen begrüßen uns nicht nur die halbzahmen Hirsche sondern auch heilige Schlangen und Eidechsen.
Wieder spüre ich die mächtige Wirkung der Tausend-Tatami-Halle Senjokaku , durch die Lena bloßfüßig  kreuz und quer herumläuft, auch über die langen überdachten Holzgänge, die außen rundherum führen. Wieder begeistern mich die steile Mondbrücke, das weiße Holzpferd in seinem Zauberstall, die alte No-Bühne und die große Pagode ebenso wie die kleine Pagode oben am Hügel mit der schönen Aussicht auf den ganzen Itsukushimakomplex samt den Muschelsammlern die neben dem heiligen Tori im trockengefallenen Schlick herumwühlen.
In der Abenddämmerung klettere ich samt Junko und Lena noch ins schon geschlossene Gelände des Daisho In hinein, besonders dramatische Tempelwächter am großen Tor, vielleicht auch wegen des schlechten Gewissens. Danach essen wir gut italienisch in einem von unserer Vermieterin empfohlenen italienischen Lokal in dem Lena fröhlich mit der Tochter der Wirtsleute spielt und von einer freundlichen Dame mit einem Täschchen für Onigiri-Reisbällchen beschenkt wird.
Es ist aber doch eine Art von Aufatmen wie wir die heiligen Stätten verlassen, das bedrückende Atombombenmuseum in Hiroshima absolviert haben und im gemütlichen, pittoresken Onomichi einkehren.
Das Hotel namens Berghütte ist zwar eine ziemlich große Hütte, aber der Blick auf die Spielzeugwelt unten, mit Meeresarm, Brücke, Eisenbahnzug, Kränen und Tempeln ist wie aus dem Bilderbuch. Auf unserem launigen Abendspaziergang bleiben wir in dem stillen Städtchen die einzigen Touristen.
Auch auf der rekonstruierten Krähenburg in Okayama und im großen davorliegenden Landschaftspark geht es ruhig zu. Gemütlich trinken wir im kleinen Teehaus am Parkteich Machatee und essen die lokale Spezialität Kibitango während ein flottes junges Paar sich im Kimono mit der Krähenburg im Hintergrund ablichten lässt.
Anscheinend liebt man in Okayama das Kostümieren. Auch vor der Burg stolzierte ein junger Mann im gemieteten Samurai-Outfit umher und in der Burg ließen sich junge Mädchen im Prinzessinnen Kimono fotografieren, natürlich auch unsere kleine, mit der Verkleidung ein wenig überforderte Lenaprinzessin.
Dann geht es zurück nach Tokyo, zu Yakitori-Spießchen unter der donnernden Metro in der Ameyokopassage. Dort geht es lustig zu, alle zeigen Lena Zauberkunststückchen, das Bier fließt reichlich und es sind nur ein paar Schritte zurück ins Kinuyahotel wo nachts vor dem Fenster die Wasservögel schreien und die Sandler wieder einmal eine ungemütliche Nacht unter ihren Plastikplanen verbringen.
Ich aber schiebe die Papierwand vor dem Fenster zu, rolle mich in das Futon ein und höre, wie Lena und Junko, neben mir kreuz und quer liegend, zufrieden schnarchen.


Die Tatami duften nach Stroh und die letzten Tage in Tokyo, mit Familienaktivitäten und Marsch vom Takaoberg zum Kobotokeberg gehen auch friedlich über die Bühne.

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