Dienstag, 18. September 2012

Auf der heiligen Insel Myashima


Schon bei der Anreise , irgendwo, fast nirgendwo, in der Vorstadt Osakas bleibt der Zug infolge einer Notbremsung plötzlich stehen. Der Himmel ist grau, ich sitze beengt neben einem fetten Japaner, Lena hat die Schuhe ausgezogen, liegt auf dem Sitz und saugt an Junkos Brust. Seitlich von mir sitzen Burgi und Florian, durchs Fenster erblicke ich einen zehnstöckigen Wohnblock.
Vermutlich hat der Zug einen Menschen überfahren, vielleicht hat dieser sich auch in suicidaler Absicht vor den Zug geworfen, über den Lautsprecher wird die Möglichkeit über den letzten Waggon auszusteigen annonciert.
Über eine Meerenge bringt uns ein Fährschiff dann zum großen, bei Flut im Wasser stehenden Tori des Itsukushimaschreins.
Miyajima ist eine Insel der Götter, Menschen dürfen dort weder Sterben noch Kinder gebären. 
Ich schaue mir die japanischen Touristenscharen auf der Fähre an, die ja, so wie unsere Reisegruppe, schon größtenteils ältere Baujahre sind, abgesehen von den vielen Schulklassen. Bitte auf der Insel nicht sterben ! denke ich. Hoffentlich halten sich alle brav daran.
Seltsam auch, dass in Sichtweite von dieser Insel mit göttlichem Sterbeverbot der Tod mit der Atombombe auf Hiroshima einen seiner grässlichsten Exzesse in der Geschichte feierte. Es muss entsetzlich gewesen sein wie sich die Haut von den verdursteten, verbrannten Menschen schälte, wie sich sogar die  schmelzenden Buddhastatuen aus Metall in Glut und Strahlung krümmten.
Vom Meer aus sehen wir den Gipfel des Misen-Berges. Oben wartet das gigantische, von den Göttern gebaute Steinheiligtum auf uns. Es ist eine Art von  megalithischem Stonehenge, oder ein riesiger Dolmen mit Menhiren, aber nicht von Menschen gebaut.

Derlei Naturheiligtümer göttlichen Ursprungs sind mir in Japan immer wieder begegnet.
Beispielsweise bin ich im abendlichen Dunkel in Ise nackt zu den durch ein mächtiges Shimenawaseil verknüpften verheirateten Felsen Izanami und Izanagi, den Ureltern aller Japaner, geschwommen. Oder ich habe magisch mit der linken Hand Steinchen ins Wasserbecken am Udo-Schrein der lokalen Krokodilsgöttin Toyotamabime geworfen. Die arme Göttin, die unter Zurücklassung ihres Säuglings und ihrer an die Wand der Grotte geklebten, versteinerten Brüste in die Meerestiefe abtauchen musste, weil ihr Gatte sie in Krokodilsgestalt erblickt hatte, die sie anlässlich der Geburt annehmen musste.
Oder ich bin  mit der noch kleinen Lena am Rücken zwischen tausenden von Steinmännchen vor der Höhle der gekränkten Sonnengöttin Amaterasu unter dem Amano Iwato Schrein durch die waldige Takachiho-Schlucht geklettert. Wohin man schaut heilige Höhlen, heilige Felsen, heilige Bäume und Quellen überall die lokalen Kami.
Der Mizen-Berg ist seit alters her voll mit derlei Spuk. Auf unserer Wanderung von der Seilbahnstation über seinen Bergrücken begegnen wir auf Schritt und Tritt kleinen und großen versteckten Statuen und Schreinen. Etwas oberhalb des ewigen Feuers im Reikado-Komplex, unter alten Bäumen, findet auch Florian seinen Seelentempel. Er nennt sich Dainichi Do, sieht ein wenig wie eine Schweizer Almhütte oder wie ein Försterhaus aus und ist in Schutztempel, in dem sich im Jänner die Mönche Myashimas versammeln.
Zwischen den beeindruckenden Felstoren und Felstürmen begrüßen uns nicht nur die halbzahmen Hirsche sondern auch heilige Schlangen und Eidechsen.
Wieder spüre ich die mächtige Wirkung der Tausend-Tatami-Halle Senjokaku , durch die Lena bloßfüßig  kreuz und quer herumläuft, auch über die langen überdachten Holzgänge, die außen rundherum führen. Wieder begeistern mich die steile Mondbrücke, das weiße Holzpferd in seinem Zauberstall, die alte No-Bühne und die große Pagode ebenso wie die kleine Pagode oben am Hügel mit der schönen Aussicht auf den ganzen Itsukushimakomplex samt den Muschelsammlern die neben dem heiligen Tori im trockengefallenen Schlick herumwühlen.
In der Abenddämmerung klettere ich samt Junko und Lena noch ins schon geschlossene Gelände des Daisho In hinein, besonders dramatische Tempelwächter am großen Tor, vielleicht auch wegen des schlechten Gewissens. Danach essen wir gut italienisch in einem von unserer Vermieterin empfohlenen italienischen Lokal in dem Lena fröhlich mit der Tochter der Wirtsleute spielt und von einer freundlichen Dame mit einem Täschchen für Onigiri-Reisbällchen beschenkt wird.
Es ist aber doch eine Art von Aufatmen wie wir die heiligen Stätten verlassen, das bedrückende Atombombenmuseum in Hiroshima absolviert haben und im gemütlichen, pittoresken Onomichi einkehren.
Das Hotel namens Berghütte ist zwar eine ziemlich große Hütte, aber der Blick auf die Spielzeugwelt unten, mit Meeresarm, Brücke, Eisenbahnzug, Kränen und Tempeln ist wie aus dem Bilderbuch. Auf unserem launigen Abendspaziergang bleiben wir in dem stillen Städtchen die einzigen Touristen.
Auch auf der rekonstruierten Krähenburg in Okayama und im großen davorliegenden Landschaftspark geht es ruhig zu. Gemütlich trinken wir im kleinen Teehaus am Parkteich Machatee und essen die lokale Spezialität Kibitango während ein flottes junges Paar sich im Kimono mit der Krähenburg im Hintergrund ablichten lässt.
Anscheinend liebt man in Okayama das Kostümieren. Auch vor der Burg stolzierte ein junger Mann im gemieteten Samurai-Outfit umher und in der Burg ließen sich junge Mädchen im Prinzessinnen Kimono fotografieren, natürlich auch unsere kleine, mit der Verkleidung ein wenig überforderte Lenaprinzessin.
Dann geht es zurück nach Tokyo, zu Yakitori-Spießchen unter der donnernden Metro in der Ameyokopassage. Dort geht es lustig zu, alle zeigen Lena Zauberkunststückchen, das Bier fließt reichlich und es sind nur ein paar Schritte zurück ins Kinuyahotel wo nachts vor dem Fenster die Wasservögel schreien und die Sandler wieder einmal eine ungemütliche Nacht unter ihren Plastikplanen verbringen.
Ich aber schiebe die Papierwand vor dem Fenster zu, rolle mich in das Futon ein und höre, wie Lena und Junko, neben mir kreuz und quer liegend, zufrieden schnarchen.


Die Tatami duften nach Stroh und die letzten Tage in Tokyo, mit Familienaktivitäten und Marsch vom Takaoberg zum Kobotokeberg gehen auch friedlich über die Bühne.

Horyu Ji und die Frage nach stilistischen griechischen Einflüssen







Auf vielen meiner Reisen von Südamerika bis Indien sind mir die kolonialen Verwaltungsgebäude und Hotels im Stile Palladios, diese versteinerten Symbole kolonialistischer und imperialistischer Machtdemonstration auf die Nerven gegangen.
Wenn wir nun an einem schwülen  Junitag durch die großen Tore den Horyu Ji betreten, diese Tempelanlage in der Prinz Shotoku, unter Unterstützung von Kaiserin Suiko den Auftrag seines verstorbenen Vaters Yomei umgesetzt hat, dann sträubt sich etwas in mir, in der bauchigen Wölbung der Holzsäulen, im angeblich „archaischen“ Lächeln und im Faltenwurf der Gewänder der Statuen schon wieder, in eurozentristischer Weise, angeblich altgriechische Stileinflüsse zu entdecken. Bin ich denn, geographisch ebenso wie geistig, so weit gereist, um hier, in der so eigenständigen japanischen Kunst schon wieder alte europäischen Ideale zu entdecken?
Faktum ist aber doch, dass am Bau des Tempels zahllose koreanische und chinesische Baumeister, Bildschnitzer und Maler beteiligt waren und das Bildprogramm des Mahayanabuddhismus, der vom 6. Bis ins 9.Jhdt. in China, bis ins 12.Jhdt. in Indien, einflußreich war, nach Nara transportierten, wo es Wuzeln schlug und sich, trotz der Angriffe der japanischen Nazis, eigentlich bis heute hielt.
Wie schaut es nun mit dem angeblich griechischen Einfluss auf diesen Mahyanabudhismus aus ?
Nach der Eroberung Baktriens durch Alexander den Großen 327v.Chr. hielten sich, auch nach dem Tod Alexanders, griechische Könige in der Region (Seleukos, Eucratides, Dototis, Demetrius), es wurden auch Griechen zwangsangesiedelt und Künstler, hauptsächlich aus dem Gebiet des heutigen Syrien, waren dort tätig. Münzen waren auf einer Seite griechisch, auf der anderen indisch beschriftet.
Es entstand eine griechisch-indische Mischkultur, mit einem bunten Pantheon, in welchem neben Apollo, Herakles und Helios auch Shiva und bald auch Buddha residierten.
Der Mauryaherrscher Ashoka, diese seltsame Figur, die sich, nach einer angeblich brutalen, kriegerischen Vergangenheit engagiert dem Buddhismus zuwandte und für dessen Verbreitung sorgte, beeinflusste sicher auch massiv Baktrien, hatte er doch griechische Gesandte an seinem Hof.
Nachdem in diesem Land im Hindukusch, geografisch dem heutigen Pakistan und Afghanistan entsprechend, die griechischen Fürsten von den nomadischen Eroberern der Kushans, in der älteren Literatur als weiße Hunnen oder Sykthen! Bezeichnet abgelöst wurden, blieb die Region weiterhin ein Schmelztiegel griechischer, indischer, teilweise auch sassanidischer Kultur.
Das sogenannte dritte buddhistische Konzil im Nordwesten Indiens, in Kaschmir (rechnet man ein mythisches, ganz frühes Konzil dazu, dann ist es das Vierte) , nach unserer Zeitrechnung bald nach Christi Geburt, formulierte erstmals das ideologische Programm des Mahayana-Buddhismus, eine wichtige Voraussetzung für die spätere Missionierung Chinas und Japans mit ihren nordasiatisch „schamanischen“ Traditionen von Taoismus und Shintoismus.
Baktrien, das merkwürdige Gandhara-Königreich im Hindukusch, hielt sich bis zum achten Jhdt. bevor es im Sand der Wüste Takla Makan versank, von mongolischen Eroberern ausgelöscht wurde. (Die prächtigen,stehenden Buddhasatuen von Bamyan wurden erst von den Taliban in die Luft gesprengt.)
Über den nördlichen Zweig der damals sehr belebten Seidenstraße brachten chinesischePilger und Gelehrte wie Fa Hsien, Sung Yün oder Hsüang Tsang den Buddhismus ab etwa 400 n.Chr. nach China, von wo er teilweise über Korea, das ja 668 passager von den Tang erobert wurde, nach Japan. Es nimmt nicht Wunder, dass gerade der legendäre China-Missionar Daruma (jap.) sich noch heute derart volkstümlicher Beliebtheit erfreut.
Das ganze indo-gräco-sino-beeinflußte Ensemble von Himmelswächtern, Torwächtern, Gottheiten, das die Reise der Missionare mitgemacht hat, ist noch heute in Japan in jedem buddhistischen Tempel zu besichtigen. Die Identitäten der Götter sind wohl in erster Linie hinduistisch und buddhistisch, ihre Kleidung, ihre Haltung, Haartracht und die Gebäude in denen sie einquartiert sind, sind aber zumindest teilweise, auf dem Weg über Baktrien, diesen Schmelztiegel der Kulturen, auch griechisch beeinflusst.
Kunstgeschichtlich scheint gesichert, dass gerade dieses Baktrien äußerst wichtig für die Entwicklung buddhistischer Ikonografie war.
Nach dem Fundort Gandhara im Tal von Kabul benannt entstand hier beispielsweise erstmals ein anthropomorphes Abbild Shakyamunis, der zuvor nur als Baum, als Stupa, Gesetzesrad etc. symbolisch dargestellt wurde. Götter in Menschengestalt waren anscheinend wirklich eine Spezialität der alten Griechen.
Diese ersten Buddhastatuen waren praktisch, vom Faltenwurf der Gewänder, Haarknoten, Haltung und Lächeln identisch mit den Apollostatuen und Heliosstatuen griechischen Ursprungs. Die stehende Position wurde erst später, natürlich unter indischem Einfluss, in den Yogasitz übergeführt.
Mit dem oft erwähnten „archaischen“ Lächeln ist es so eine Sache. Ist doch diese Kunst zumindest fünf Jahrhunderte v.Chr. zu datieren und kann schwerlich Baktrien beeinflusst haben. Aber bereits in hellenistischer Zeit und im römischen Reich unter Augustus und Hadrian gab es in der darstellenden Kunst Greek-Revival-Bewegungen, Neo-Attische Moden, die versuchten, diese altertümlichen Stilmerkmale wiederzubeleben.
Beim wunderbaren Lächeln der Nara-Buddhas, dem milden Ausdruck der traumverändernden (Yumechigai) Kannon, der überschlanken Kudara mit der Wasserflasche in der Hand oder dem eleganten Buddha, der jetzt im Frauentempel Chugu Ji im Osten des Horyu Ji thront, dürfte es aber doch wohl eher um einen Parallelismus als um einen Einfluss gehen.
Spannend bleibt die Frage der auffallenden Entasis (eingedeutscht Entase), der Anspannung der Säulen, wie beim Bicepsmuskel oder bei der Wadenmuskulatur. Dieses so offensichtlich anthropomorphe Architekturelement scheint so typisch griechisch, macht es doch den Menschenkörper, der ein Gewicht trägt, zum Vorbild der Architektur. Anthropos metron panton.
Im Lichte dieser Überlegungen kehre ich nochmals zurück in den Horyu Ji, zu den Terakottadarstellungen vom Leben Shakyamunis im Untergeschoss der Pagode, besonders beeindruckt von den klagenden Mönchen an der Leiche des Erleuchteten. Noch einmal betrete ich in Gedanken die große Halle des Kondo, deren Dämmerlicht uns nach dem grellen Mittagslicht des weiten, aber sehr homogen wirkenden Hofes- voller Schulklassen in Uniformen, wohl tut. Unheimlich umstehen die vier riesigen Himmelswächter, auf bizarren besiegten Dämonen stehend, die zentrale Shakyamunigruppe.
An den Wänden die einzigartigen Fresken des buddhistischen Paradieses die mich an Ajanta, aber auch an Pompej erinnern.
Dann, nach unserem Abstecher (sic!) zum Glockenturm hinauf durchs Museum und doch noch, schon müde, in die Halle von Shotokus Seele, wo mir ein geduldiger, äußerst liebenswürdiger Mönch meinem Spitznamen Inari schwungvoll in mein Pilgerbuch malt während eine Schlange anderer Pilger wartet, ohne zu Murren.
Bei schwülem Weter schlendern wir dann durch eine Hinterstrasse zu Udon, Soba &Co, fahren im Taxi zum Kofun Grab und mit der Bahn wieder nach Nara zu kalligrafischen Ryokan-Wirtin. Ach, diese reizende Wirtin ! In einem anderen Leben hat sie mich vielleicht im Gebrauch eines anderen Pinsels unterwiesen ! Deshalb spüre ich heute wohl das Karma in meinem linken Knie etwas schmerzlicher.

Kyoto, die Stadt mit den vielen Zeitlöchern




In manchen Städten, besonders in solchen mit reicher und abgründiger Vergangenheit, erlebe ich immer wieder, dass die scheinbar solide Fassade der aktuellen Wirklichkeit dünner wird, durchsichtiger, dass ich stolpere und mich ein paar Schritte in eine andere Zeit, eine längst vergangene Welt verirre.
Kyoto, die alte Kaiserstadt, scheint mir von derlei Zeitlöchern übersät zu sein, was sich auch bei unserem heurigen Besuch zeigte.
Irgendwie scheint der kontinuierliche Faden der linearen Zeit  immer wieder zerrissen. Diese Zerreißbarkeit der Zeit bleibt mir spürbar, auch wie wir in Kyoto eingetroffen vor dem von Hara Koji geplanten Bahnhofsgebäude ein Taxi besteigen und durch die Hauptstraßen einer auf den ersten Blick nichtssagenden, modernen Stadt fahren. Dabei weiß ich doch schon aus der Erinnerung, welch geheimnisvolle Gärten und Tempel, welch unwirklicher Zauber sich hinter diesen Häuserzeilen verbirgt.
Beim Überqueren des Kamoflusses wird die nichtssagende Gegenwart kurzfristig transparent. Vor den im Mittagslicht schläfrig und fad wirkenden Restaurants von Pontocho stolziert im Fluss, zwischen ein paar Schilfinseln ein Reiher umher. Vielleicht derselbe Reiher den wir ein paar Tage später am goldenen Pavillon des Kinkaku Ji sehen.
Der Taxilenker erzählt unterdessen, dass er auch eine Tauchschule betreibe und ich versuche den Scherz, dass Florian und ich als Psychoanalytiker gewissermaßen auch Taucher seien, im seelischen Meer sozusagen, he he. Aber ich bin unsicher ob der matte Witz nicht eh in den Problemen der unermüdlichen Übersetzung Junkos hängen geblieben ist.
Das nächste irgendwie unwirkliche Erlebnis ist der Besuch im winzig wirkenden Wohnzimmer hinter der ohnedies kleinen Apotheke Chizukos.
Die liebenswürdige Chizuko und ihre Mutter, finden ohnehin kaum Platz zwischen den Gläsern, Pillen, Dragees und Salben, zwischen Vitaminsaftflaschen und Antibiotika. Dazu kommt aber noch die Kücheneinrichtung, zahlreiche Erinnerungsstücke, vor allem vom geliebten Wien. Es grenzt an ein Wunder, dass wir zu fünft, nach Ablegen der Schuhe und Überwindung einer kleinen Treppe, auch noch in die Hexenküche hineinpassen. Aber dann klappt es sogar mit Tee , selbstgebackener Linzertorte und einem Gespräch über die Wiener Philharmoniker.
Der geheimnisumwitterte Garten Hekates auf der Kolchis erscheint in meiner Fantasie, dieser Garten, in dem neben den Heilkräutern auch todbringende Giftpflanzen wachsen.
Im Vergleich mit dieser Hexenküche wirkt sogar das Holzhaus in einer engen, altertümlichen Gasse, nur ein paar Schritte entfernt, weiträumig.
Es handelt es sich um ein sogenanntes Aalhaus, weil es sich von einer sehr schmalen Fassade relativ weit nach hinten erstreckt, wie die Häuser alter burgenländischer Dörfer.
Auch das Ryokan der Vermieterin, gleich daneben, ist ein derartiges Aalhaus, angeblich war es früher ein erotisches Teehaus für Geishas. Die Vermieterin meint, sie habe auch viele vergilbte Fotografien des lüsternen Treibens in der Vergangenheit gefunden, uns zeigt sie allerdings nur die Porzellankatze, die auf einem verhüllten Penis kauert, der jedoch zu sehen ist, wenn man die Statuette mit der Katze umdreht.
Während ich, mit ein wenig geheuchelter Begeisterung das zweite Frühstück, bestehend aus ungesalzenem Reis, Misosuppe, Essiggemüse, Yuba, Tofu und diversen undefinierbaren Geheimspeisen hinunterwürge, begleitet von Lenas Geklimpere auf einer Spielzeuggitarre, denke ich mit leiser Wehmut an Burgi und Florian, die in einem nahegelegenen, eher europäischen Kissaten, auf Sesseln sitzend einen Kaffee schlürfen.
Wir verzichten darauf, uns vom Balkon des Kyomizu Dera herunterzustürzen, bummeln abends noch zum Yasakaschrein und zum Tor des Shoren in und träumen beim Duft der Tatamis vom alten Kyoto.
Für Dienstag hat Hirohisa Mori, ein Schulfreund Junkos, auch eine Erscheinung aus dem Zwischenreich außerhalb der kompakten trivialen Realität ein Spezialprogramm zusammengestellt. Es war sehr schmeichelhaft für mich, dass er mir sein 706 Seiten  starkes, sicher 1kg schweres Werk über „Gobalbase Architecture“ zusandte, voller Bilder und komplizierter mathematischer Formeln.
Vom elegant livrierten Chauffeur werden wir im komfortablen Kleinbus zur Besichtigung der Katsura-Kaiservilla gefahren. Während der Führung durch den unglaublichen Garten mit seinen alle paar Schritte wechselnden, traumhaften Ausblicken wird ein Teil der Gruppe zum Matsuo-Schrein geführt, wenn ich es recht verstehe ein irgendwie den Teufeln des Sake verbundenes Heiligtum.
Imaginäres und Reales beginnen verstärkt zu oszillieren, bewegen wir uns durch ein Landschaftsaquarell, eine Ukioye oder haben wir, spätestens in der Kakiplantage und bei der schlitzäugigen Wirtin schon wieder festen Boden unter den Füßen?
Gegen Abend erwartet uns an der Togetsubrücke in Arashiyama der dämonische Kobold Prof. Monta Hayakawa. Die Lippen von einem dezenten Shunga-Lächeln umspielt ,erinnert er mich mit seinen buschigen Augenbrauen und Katzenaugen sofort an den Advokaten Coppelius in ETA Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“, über die ja S.Freud seinen Aufsatz über das Unheimliche verfasst hat.
Um uns zu Verzaubern, hat er eine Bootsfahrt auf dem Oi-Fluß geplant, die jedoch, infolge eines Wolkenbruches buchstäblich ins Wasser fällt.
Unverzagt führen er und Mori unsere kleine Gruppe in eine Taverne am Flussufer von der aus man unter roten Lampions einen Ausblick auf den im Regen dahinströmenden Fluss genießt. Nach diversen, teils englischen, teils von Junko immer wieder übersetzten fragmentarischen Unterhaltungen, nach Kaffee, Machaeis und einer kleinen Tangoperformance auf der vorgelagerten Terasse, wird die so genannte Führung durch den magischen Hayakawa-Coppelius fortgesetzt.
Ein Gedenkstein für die schöne Akashi no Kimi, die dem Prinzen Genji ein Mädchen geboren hatte, mit dem sie sich versteckte und dann, was für romantische Story!, von einem Diener mit Hilfe einer Kennmelodie, mir scheint auf Flöte, oder war es eine Koto?, aufgespürt wurde, beeindruckt den, mit derlei traditionellen Legenden vertrauten Florian offenbar besonders.
Mir gefallt Hayakawas Behauptung, dass bei einem Konzert im Tenryu Ji, vor dem großen Karpfenteich, das er zu ehren einer ausländischen Delegation veranstaltete, die Fische bei ganz bestimmten Flötenpassagen aus dem Wasser zu springen begonnen hätten.
Durch den berühmten, milchig-blaugrünen, verregneten Bambushain, vorbei an kleinen Shintoschreinen die zinnoberrot im Regen glänzen, über die Gleise der Kleinbahn und durch die Vorstadt führt der ständig lächelnde , aber doch unheimliche Magier uns in Richtung zum großen grünen Affenberg. Die Häuser verlieren sich, die Gruppe zerstreut sich immer mehr, der Regen nimmt zu und schließlich bleiben wir im Niemandsland vor einem großen Acker, in dessen Furchen sich das Regenwasser gesammelt hat stehen. Was ist los denke ich - da weist Hayakama auf ein kaum sichtbares, bemoostes Strohdach, halb unter alten Bäumen verborgen, das man in der Dämmerung gerade noch hinter dem Acker erkennen kann.
Das sei die letzte Rast des ruhelosen Dichtermönches Basho gewesen, wo er vor seinem Tod bei einem Freund gewohnt habe.
Ich spüre, wie ich wieder einmal den trügerischen Boden der Gegenwart unter den Füßen verliere, wieder in ein Zeitloch geraten bin, von diesem Shunga-Dämon in die Falle geführt.
Das letzte Haiku des poetischen Landstreichers Basho aus einer Anthologie, die ich als Reiselektüre mitführe, fällt mir ein :

Vom Wandern krank
Auf ödem Feld
Irrt mein Traum umher

Zur Erholung von dieser gelungenen Erschütterung führt uns der katzenäugige Kobold in sein eigenes Häuschen um uns bei Tee die Blumenaquarelle seines verstorbenen Vaters zu zeigen, seines hochverehrten Vaters, der angeblich 1000 Wakas auswendig kannte.
Danach übersiedeln wir in das noble Restaurant Togetsutei dessen große Glasfenster sich zum Fluss und zur alten Brücke hin öffnen. Bei einem komplizierten und vielfältigen Menü werden wir von Mori mit Huroshiki Tüchern, in die unsere Namen gestickt sind, beschenkt.
Tags darauf starten wir zum klassischen Kyoto-Tempel-Marathon. Vom Nanzen Ji geht es über den Philosphenweg zum Gingaku Ji , wo uns Junko und Lena nach dem Mittagessen verlassen.
Aus dem Wunsch, mit Florian und Burgi möglichst viel von Kyotos reichen Schätzen zu besichtigen, fahren wir zum Daitoku Ji wo schon die stillen meditativen Steingärten mit ihrer hintergründigen Symbolik zu Innehalten auffordern.
Aber Rainer treibt weiter, es geht auch noch zur wichtigsten Ikone des touristischen Kyoto- Marathons, zum goldenen Pavillon Kinkaku Ji. Beim Galopp durch dessen weitläufigen Garten spüre ich, dass Burgi ab und zu, trotz aller Begeisterungsfähigkeit, genug davon hat, von Tempel zu Tempel gezerrt zu werden. Vermutlich ist sie doch daran gewöhnt programmatische Verantwortung für ihre zeitweise große, eigene Familiengruppe zu übernehmen und es fällt ihr nicht immer leicht, mit wenig Mitbestimmung als Reisegruppen-Mitläuferin passiviert zu werden. Aber das ist Spekulation, jedenfalls kann ich mir gut vorstellen, dass ich, Rainer, von mir selbst ziemlich genervt wäre, würde ich in ihrer Haut stecken.
Leider nur tangential nehmen wir das reizende kleine Teehaus mit seinem bemoosten Strohdach, dem alten Holz und der bukkolischen Stimmung wahr. Dabei gilt es als Prototyp der japanischen Wabi-Sabi-Ästhetik.
Wabi die traurige, einsame Verlorenheit, etwa der blühende Kirschzweig der mit Schnee bedeckt, friert, Sabi bekanntlich so etwas wie Rost oder Patina, auch die Spuren des Gebrauches durch die menschliche Hand, das Abgetragene eines alten Kleidungsstückes etwa.
Gerade für diese Botschaften, die wir ja von der Anakreontik über die Schäferspiele des Rokoko bis hin zur Romantik wohl auch kennen, finden wir in unserem Besichtigungsgalopp keine Muße.
Erst im nächsten Taxi erfahren wir, dass in den weiteren angepeilten Tempeln – gottseidank – bereits Sperrstunde ist und so steigen wir beim Heian Ji aus, schlendern von dort eher müde vorbei an den knorrigen Kampferbäumen am Shoren in heim ins Ryokan.
Auf dem Weg zum Abendessen durch die Gion-Strasse sehen wir wieder Gespenster vergangener Zeit, Geishas und Maikos in Kimonos mit kunstvollen Frisuren huschen vorbei, wir gehen bis ans Flussufer nach Pontocho, können aber wegen der kühlen Brise doch nicht im Freien essen.
Der Pilgerweg durch die tausend rotlackierten Torii auf dem Berg hinter dem Fushimischrein führt uns auch zurück von Kyoto in die ältere Epoche Nara.
Die steile, letzte Schlinge dieses einzigartigen Pfades gehen nur Florian und ich während Junko und Burgi mit Lena im  Schatten des Waldrestaurants bleiben.
Unter den magischen Toren, von den Inari-füchsen bewacht erzählt Florian mir ein wenig von seinem schwierigen Werdegang durch die Initiationstore der jungianischen Schweizer Analytiker, was mich in meinem Widerwillen gegen diese  monopolitischen, wichtigtuerischen Ausbildungsgesellschaften wieder einmal bestärkt.

Zwei-Tage Kuraufenthalt in Nikko





In den letzten Tagen spüre ich eine etwas wehleidige, aber auch trotzige Abschiedsstimmung. Wiederholt fällt mir E.Jandls Gedicht ein:“ Hier hock ich nun, in letzter Lebensphase, ein Mensch, ein wenig Hund, ein wenig Hase. Auch das Bild des singenden Liebespaares, das rechts vorne auf P.Breughels „Triumph des Todes“ zu sehen ist taucht immer wieder auf, und der Tod als Gerippe dargestellt, deer hinter dem Paar auftaucht und ihr Lied von hinten unmerklich au seiner Geige begleitet.
Also stimme auch ich das krächzende Lied meines altersschwachen Endspurts an, das schaurige Lamento vom rhythmischen Knirschen arthrotischer Gelenke untermalt. „Auch im Kopfe, es knistert und knackt, mir scheint, dass da jemand die Koffer packt“ jammert der arme Heinrich Heine in seiner Matratzengruft.
Aber dann schneuze ich mich heftig, gebe mir einen Ruck und sehe zuversichtlich dem Ausflug mit Burgi und Florian, die ja auch nicht gerade Jugendliche sind, nach Nikko entgegen.
Tatsächlich, in den tiefgrünen geheimnisvollen Zedernwäldern, aus denen nach dem Regen die weißen Nebeldrachen aufsteigen und unsere frommen Wünsche zum Himmel tragen, erwartet mich Tröstung von meinem melancholischen Anfall.
Schon das Begrüßungsessen im traditionellen Nobelrestaurant und der Regenspaziergang durchs Gelände des ziemlich still wirkenden Tosho Gu sind Balsam auf meiner wehleidigen Seele.
In verregneter Dämmerung, kurz gegrüßt von den geschnitzten Affen und der Katze des linkshändigen Schnitzers, durch den tropfenden finsteren Zedernwald, fast schon im Jenseits angelangt, klettern wir die steile Treppe zum grab des großen Shoguns hinauf. Auch seine Macht löst sich im Abendnebel auf, schlussendlich auch nichts als Illusion.
Recht zufrieden hatschen wir, vorbei an einem Reh, das Burgi am Waldesrand neben der Brücke entdeckt heim ins Park-Lodge und erfreuen uns an Yuba, diesen grauslichen Soja-Häuten und Rotwein bevor wir durch den stockdunklen Wald ins kleine Onsen gehen und uns in der heißen Brühe entspannen.
Dann setzt sich die Nikko-Behandlung meines morschen Gemüts in der Morgensonne in der Gamman Ga Fuchi Schlucht erfolgreich fort. Die zahllosen, grün bemoosten barmherzigen Jizos mit ihren leuchtend roten Mützen ermutigen auch mich,  das frisch über die großen runden Felsen zur
Heiligen roten Shinkyo- Bogenbrücke dahinsprudelnde und schäumende Wasser trägt auch zur heilsamen Wirkung bei.
Bereits in der Kaiservilla Nikko Tamazawa erwacht mein kämpferischer Geist wieder und ich schimpfe auf all die Kaiser, Fürsten, Feldherrn, Päpste und Bankdirektoren in ihren edlen Prachtvillen, umgeben von traumhaften, gepflegten Gärten, was mir durch ein zur Schau gestelltes Fotoalbum das Bilder internationaler Prominenz, die den Showa-Kaiser Hirohito besuchten, zeigt.
Im Rinno Ji besuchen wir die großen, goldenen Buddhas und die den Tieren holde pferdeköpfige Bato, dann pilgern wir zur Quelle und den heiligen Zedern im Futarasan Ji. Unter den schamanischen gekreuzten Firstbalken geistert immer ein ähnlicher Märchenzauber durch diese Shinto-Schreine. Alte Hexer, unschuldige junge Mädchen, heilige Bäume, Quellen und Felsen. Auch hie zieht sich der Natur-und Landschaftsanimismus bis hinauf zu den Nebenschreinen beim Kegon-Wasserfall am Chuzenji-See und zum Gipfel des dahinter im Nebel verschwindenden Nantai-Sans.
Nachdem wir, recht begeistert , den Tai Yuin Byo mit dem Grab für Ieyasus Enkel Iemitsu durchschritten haben, verschwinden auch wir in den dunklen Falten der grünen Sykomorenwälder in die sich die auch grün bemoosten Laternenwälder der Tempel nahtlos fortsetzen.
Wie am Plafond der Haupthalle des Tayuin Byo steigen auch hie schon wieder einhundertvierzig Drachen zum Himmel, diesmal führen sie auch meine Gebete für Lena und Leos Glück mit sich.
Beim Tempel der Wassergöttin an einem Bachufer kehren wir um und kehren, vorbei an der Höhle mit den Statuen unter der Felswand wieder zurück nach Nikko, dem Ursprung der Sonne und weiter nach Ueno.
Dort wage ich mich, zwar schon etwas müde, doch noch in den Go-Club und darf drei Partien gegen ein Spieler mit dem 5.Dan spielen, eine große ehre für einen dahergelaufenen Ausländer.

Bunraku

Fragmentarische Eindrücke von einer vierstündigen Bunrakuaufführung im Nationaltheater neben dem Kaiserpalast.
(Nur die zwölfstündige Schattentheatervorstellung in Yogjagakarta und die achtstündige Mahabharata-Performance in Benares waren noch länger)
Durch die lange Dauer werden die Puppen und ihre Welt immer wirklicher.
Ein steinzeitlich wirkender Barde rezitiert, teilweise mit Tierstimme, Bauchreden, Stöhnen und Grunzen, die Handlung.
Sein wirklich wüstes Erdbebenlachen weckt archaische Gefühle.
Das leere Gesicht, sozusagen Minusgesicht der Puppenspieler hat allen mimischen Ausdruck, alle Psychomotorik den Puppen abgetreten, diese projektiv damit identifiziert. Der Spieler bleibt quasi als leere Hülse zurück.
Innere Vorgänge des Stückes, in den Puppen externalisiert, werden dabei in reiner, prototypischer , schematischer Weise sichtbar.
Die Puppe tanzt, weint, mordet und ihre Emotionen wirken reiner und tiefer als die Emotionen von uns Fleischmenschen, weil sie ungetrübt sind, auf das wesentliche reduziert.
Zum Klang des Shamisenorchesters werden die Figuren von Dämonen der Leidenschaft verhaftet und abgeführt.
Zugleich werden ihre Stimmen von den agierenden Gestalten gelöst.
Der Barde, Sprecher, oder besser sogar Sänger genannt, bringt den Text mit heftig outrierten Affekten zum Klingen. Wie gesagt sind Heulen, Jaulen oder Stöhnen noch schwache Bezeichnungen für diese, überaus körperlichen Urlaute, die an traditionelle indische Gesangstechnik erinnern.
Fünf Shamisen, gelegentlich klapperndes Holz oder eine Koto, ebenso wie Flöte und Gong begleiten den Gesang.
Drei Männer in schwarzer Kleidung bewegen die Puppen, zwei davon, die erst seit wenigen Jahren Bunraku praktizieren tragen schwarze Kapuzen. Diese beiden bedienen Beine und linken Arm. Der Meister, mit unverhülltem Gesicht, tadellosem Haarschnitt und starrer Miene bewegt Kopf, Mimik und rechte Hand.
Mitunter zweifelt der Betrachter, ob die Puppe den Spieler oder dieser die Puppe bewegt, so wie wir ja auch oft nicht wissen, ob wir Subjekt oder Objekt der Abläufe sind.
Je gespenstischer die Puppen aufleben, desto mehr verschwinden die bereits schwitzenden erschöpften Spieler im Hintergrund.
Das Stück handelt von einer unglücklichen Liebesgeschichte.
Eigentlich wollen wir, ermüdet von der langen Dauer und der Aufregung wegen Junkos Erkrankung, schon früher gehen. Da taucht Junko aus einem Hinterzimmer, wo sie sich etwas ausrasten durfte, doch wieder auf und will das Ende des Stückes noch sehen, den berühmten Schmetterlingstanz.
Die Seelen der toten Liebenden verwandeln sich in Schmetterlinge die einen bezaubernden Liebestanz vorführen.
Wunderbare Verwandlung der Liebenden ! Wie in Ovids Metamorphosen!
In nova fert animus mutatas dicere formas corpora.
Bei großen Szenen treten zugleich bis zu sieben, acht Puppen auf und während die Protagonisten, Fürsten und Samurai, ihre dramatischen Konflikte austragen, wäscht sich – vorne links – der kleine Ruderknecht in imaginärem Wasser sein Kopftuch, mit dem er zuvor seinen imaginären Schweiß abgewischt, seelenruhig, von den Aufregungen der großen Welt kaum berührt.
Weil die Bewegungen der großen Puppen mit den Händen gesteuert werden, die bekanntlich im Cortex über eine wesentlich größere Repräsentanz verfügen, können sie sehr fein nuanciert werden, vergleichbar dem Spielen auf einem Musikinstrument. Auch kann das idealtypische eines inneren seelischen Ablaufs vielleicht schärfer visualisiert werden.
Zudem sind die Puppen frei von der oft doch eitlen Selbstbespiegelung realer Schauspieler, was ja schon Kleist in seinem Aufsatz über das Marionettentheater angesprochen hat. Die Aktionen wirken dadurch gewissermaßen authentischer.

Ein Besuch im Kabukizelt


Fürsorglich hatte Junko für Mittwoch, den 23. Mai Karten in einem großen Theaterzelt am Ufer des Sumidaflusses reserviert. Von Ueno fahren wir erwartungsvoll mit der Asakusa-Linie dorthin, kaufen uns bei den Läden vor dem Zelt Bento-Boxen und werden auf unsere Plätze, direkt am „Blumensteg“ am Hanamachi geführt, einem Laufsteg, über den die dramatisch geschminkten Akteure bei Höhepunkten der Handlung durchs Publikum poltern.
Das eher bürgerliche, vom Alter her schon etwas reifere Publikum vor uns beginnt schon vor dem Beginn des ersten Aktes mit dem Verzehr der Bento-Boxen, was mich daran erinnert, wie wir als Volksschüler schon morgens im Autobus genüsslich die Jausenpakete auspackten.
Das Stück handelt von einer Doppelgängergeschichte, in die zwei Paare, Prinz und Prinzessin bzw. Gärtner und Hofdame verstrickt sind. Abgründig dabei ist, dass der Gärtner bereits tot ist, für den Prinzen geopfert. (Diese häufige Story, dass sich ein Namenloser für einen Aristokraten opfert, beispielsweise auch im berühmten No-Spiel vom Kirschblütenfest aber auch im Bunraku, das wir einmal auf Shikoku gesehen haben)
Ein wenig Klassenkampf flackert auch durch das Stück, das wir sehen: die frühbürgerlich-proletarische Feuerwache inszeniert Händel mit der Gilde der Sumoringer, die eher unter Patronanz der Samurai stehen.
Obwohl man wirklich nicht sagen kann, dass die Japaner die Revolution erfunden hätten, wird doch im Kabuki oft der sozial absteigende Stand der Samurai lächerlich gemacht.
Im Gegensatz zum feinen, aristokratischer Zurückhaltung verpflichteten, leise gähnend dahinplätschernden Notheater (Noh-Theater) geht es im Kabuki turbulent zu. (Immerhin haben wir in Nara aber auf einer No-Bühne vor dem großen, gemalten Pinienbaum gefrühstückt und die angeblich älteste No-Bühne Japans in Miyashima besucht, deren überdachter Laufsteg (Hashigakari) durchs Meereswasser führt)
Seit den Zeiten der legendären Tänzerin Okuni behielt das Kabuki seinen volkstümlichen Charakter, auch nachdem von der Behörde zunächst die Huren und dann die Strichbuben mit ihrer Stirnlocke  als Schauspieler verbannt wurden.
Deshalb spielen, natürlich auch bei unserer Vorstellung, Männer die Frauenrollen, wodurch, ein wenig wie bei Transvestiten, das typisch Weibliche etwas überzeichnet wirkt.
Beeindruckend ist auch, nach der Nachtszene, der tänzerische Auftritt zweier Fischer, die sich mit Hilfe von Gesichtsmasken, auf die die Kanji von Gut und Böse aufgemalt sind, in diese, miteinander kämpfenden Prinzipien verwandeln.
Nach der Vorstellung pilgern wir zu Fuß zum großen volkstümlichen Tempel Senso Ji, zu Burgis Bedauern führt der Weg dorthin nicht malerisch am Flussufer entlang.
Hinter dieser Tempelanlage mit den zahllosen Devotionalien- und Andenkenläden rundherum, ragt der erst vor wenigen Tagen eröffnete 650m hohe Aussichtsturm Sky-Tree in den dunstigen Himmel. Nach einer kleinen Stärkung fährt Junko zur Aufführung  von Adolf Hitlers Lieblingsoperette „Die lustige Witwe“ in die Bunka-Kaikan nach Ueno und wir pilgern ein wenig mühsam, teilweise von einer netten Dame gelotst, in die legendäre Kappabashi. Dies ist eine, nach den „Gurkenmonstern“ Kappa benannte Straße mit endlosen Geschäftsarkaden in denen Küchen- und Restaurantzubehör verkauft wird, eigentlich eine ideale Adresse für kleine, preiswerte Reiseandenken.
Schon ein wenig müde tigern wir noch durch die weitläufige Ueno-U-Bahn-Station, aktivieren dort die Japanrailtickets, wonach Florian und Burgi, wohl erleichtert, im Hafen des Kinuyahotels einlaufen während ich mit meiner Lenachan durch den in Dämmerung versinkenden Park zum Kinderspielplatz schleiche, wo Lena zu meiner Erleichterung ein seit Tagen fälliges „Unchi“ macht. Dem Himmel sei dank, dass ein öffentliches Klo in der Nähe ist, nicht wie vor einigen ‚Tagen, als Lena auch dringend aufs Klo musste wie wir gerade vor dem Nobelrestaurant mit Blick auf den Teich vorbeizogen. Ein uniformierter Lakai mit weißen Handschuhen bedeutete mir, ich müsse mich mit meiner Kleinen in einer langen Schlange von reiferen, zierlichen Damen mit Blumentopfhüten und verwelkten Ehegatten anstellen, aber ich stürmte an ihm und an einer Gruppe sich rhythmisch, wie ETA Hoffmanns Olympia, verbeugenden Kellnerinnen vorbei auf die Damentoilette wo Lena zwinkernd und stöhnend ihr Geschäft erledigte.
Die obligate Händewaschung erledigten wir dann bereits am Wasserbecken (Chozuya)des neben dem Hotel liegenden Kiyomizu Kannon Do , wo wir der barmherzigen Göttin dankten.
Eigentlich fühlt sich Lena in diesem Park mit anderen Kindern, mit denen sie schnell Kontakt aufnimmt, als würden sie sich schon lange kennen, mit den Straßenmusikern, Tanzgruppen, Jongleuren und mit dem Ringelspiel und den Tretbooten in Gestalt rosaroter Riesenschwäne unterdessen schon recht wohl.
Auch ich liebe das Museum mit dem Teehaus im Park dahinter, die Cafes und genieße abends mit Burgi und Florian ein Glas italienischen Weines direkt neben dem Denkmal für die in der Schlacht von Ueno gefallenen letzten zweitausend Tokugawaanhänger.

Japan 2012