Dienstag, 18. September 2012

Ein Besuch im Kabukizelt


Fürsorglich hatte Junko für Mittwoch, den 23. Mai Karten in einem großen Theaterzelt am Ufer des Sumidaflusses reserviert. Von Ueno fahren wir erwartungsvoll mit der Asakusa-Linie dorthin, kaufen uns bei den Läden vor dem Zelt Bento-Boxen und werden auf unsere Plätze, direkt am „Blumensteg“ am Hanamachi geführt, einem Laufsteg, über den die dramatisch geschminkten Akteure bei Höhepunkten der Handlung durchs Publikum poltern.
Das eher bürgerliche, vom Alter her schon etwas reifere Publikum vor uns beginnt schon vor dem Beginn des ersten Aktes mit dem Verzehr der Bento-Boxen, was mich daran erinnert, wie wir als Volksschüler schon morgens im Autobus genüsslich die Jausenpakete auspackten.
Das Stück handelt von einer Doppelgängergeschichte, in die zwei Paare, Prinz und Prinzessin bzw. Gärtner und Hofdame verstrickt sind. Abgründig dabei ist, dass der Gärtner bereits tot ist, für den Prinzen geopfert. (Diese häufige Story, dass sich ein Namenloser für einen Aristokraten opfert, beispielsweise auch im berühmten No-Spiel vom Kirschblütenfest aber auch im Bunraku, das wir einmal auf Shikoku gesehen haben)
Ein wenig Klassenkampf flackert auch durch das Stück, das wir sehen: die frühbürgerlich-proletarische Feuerwache inszeniert Händel mit der Gilde der Sumoringer, die eher unter Patronanz der Samurai stehen.
Obwohl man wirklich nicht sagen kann, dass die Japaner die Revolution erfunden hätten, wird doch im Kabuki oft der sozial absteigende Stand der Samurai lächerlich gemacht.
Im Gegensatz zum feinen, aristokratischer Zurückhaltung verpflichteten, leise gähnend dahinplätschernden Notheater (Noh-Theater) geht es im Kabuki turbulent zu. (Immerhin haben wir in Nara aber auf einer No-Bühne vor dem großen, gemalten Pinienbaum gefrühstückt und die angeblich älteste No-Bühne Japans in Miyashima besucht, deren überdachter Laufsteg (Hashigakari) durchs Meereswasser führt)
Seit den Zeiten der legendären Tänzerin Okuni behielt das Kabuki seinen volkstümlichen Charakter, auch nachdem von der Behörde zunächst die Huren und dann die Strichbuben mit ihrer Stirnlocke  als Schauspieler verbannt wurden.
Deshalb spielen, natürlich auch bei unserer Vorstellung, Männer die Frauenrollen, wodurch, ein wenig wie bei Transvestiten, das typisch Weibliche etwas überzeichnet wirkt.
Beeindruckend ist auch, nach der Nachtszene, der tänzerische Auftritt zweier Fischer, die sich mit Hilfe von Gesichtsmasken, auf die die Kanji von Gut und Böse aufgemalt sind, in diese, miteinander kämpfenden Prinzipien verwandeln.
Nach der Vorstellung pilgern wir zu Fuß zum großen volkstümlichen Tempel Senso Ji, zu Burgis Bedauern führt der Weg dorthin nicht malerisch am Flussufer entlang.
Hinter dieser Tempelanlage mit den zahllosen Devotionalien- und Andenkenläden rundherum, ragt der erst vor wenigen Tagen eröffnete 650m hohe Aussichtsturm Sky-Tree in den dunstigen Himmel. Nach einer kleinen Stärkung fährt Junko zur Aufführung  von Adolf Hitlers Lieblingsoperette „Die lustige Witwe“ in die Bunka-Kaikan nach Ueno und wir pilgern ein wenig mühsam, teilweise von einer netten Dame gelotst, in die legendäre Kappabashi. Dies ist eine, nach den „Gurkenmonstern“ Kappa benannte Straße mit endlosen Geschäftsarkaden in denen Küchen- und Restaurantzubehör verkauft wird, eigentlich eine ideale Adresse für kleine, preiswerte Reiseandenken.
Schon ein wenig müde tigern wir noch durch die weitläufige Ueno-U-Bahn-Station, aktivieren dort die Japanrailtickets, wonach Florian und Burgi, wohl erleichtert, im Hafen des Kinuyahotels einlaufen während ich mit meiner Lenachan durch den in Dämmerung versinkenden Park zum Kinderspielplatz schleiche, wo Lena zu meiner Erleichterung ein seit Tagen fälliges „Unchi“ macht. Dem Himmel sei dank, dass ein öffentliches Klo in der Nähe ist, nicht wie vor einigen ‚Tagen, als Lena auch dringend aufs Klo musste wie wir gerade vor dem Nobelrestaurant mit Blick auf den Teich vorbeizogen. Ein uniformierter Lakai mit weißen Handschuhen bedeutete mir, ich müsse mich mit meiner Kleinen in einer langen Schlange von reiferen, zierlichen Damen mit Blumentopfhüten und verwelkten Ehegatten anstellen, aber ich stürmte an ihm und an einer Gruppe sich rhythmisch, wie ETA Hoffmanns Olympia, verbeugenden Kellnerinnen vorbei auf die Damentoilette wo Lena zwinkernd und stöhnend ihr Geschäft erledigte.
Die obligate Händewaschung erledigten wir dann bereits am Wasserbecken (Chozuya)des neben dem Hotel liegenden Kiyomizu Kannon Do , wo wir der barmherzigen Göttin dankten.
Eigentlich fühlt sich Lena in diesem Park mit anderen Kindern, mit denen sie schnell Kontakt aufnimmt, als würden sie sich schon lange kennen, mit den Straßenmusikern, Tanzgruppen, Jongleuren und mit dem Ringelspiel und den Tretbooten in Gestalt rosaroter Riesenschwäne unterdessen schon recht wohl.
Auch ich liebe das Museum mit dem Teehaus im Park dahinter, die Cafes und genieße abends mit Burgi und Florian ein Glas italienischen Weines direkt neben dem Denkmal für die in der Schlacht von Ueno gefallenen letzten zweitausend Tokugawaanhänger.

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