Freitag, 20. Juni 2014

Des Meeres und der Liebe Wellen


Psychoanalytische Bemerkungen zur Kulturgeschichte des Wassers

Aller Anfang ist nass
Wie wirkt die Begegnung mit dem Wasser auf die Psyche? Welche Fantasien löst ein Spaziergang am Ufer des Meeres aus? Welche Stimmungen, welche Sehnsüchte und Ängste erzeugen ein Bad in den Fluten oder eine Bootsfahrt?
Spüren wir Beruhigung und Entspannung wenn wir in die Fluten tauchen oder Bedrohung durch die Tiefe und Uferlosigkeit? Vermutlich vermischen sich ein sehnsüchtiges Gefühl von Vertrautheit mit unheimlichen Ängsten unterzugehen und sich aufzulösen.
Außerdem gibt es schließlich beträchtliche Unterschiede zwischen einer Badewanne und dem Pazifik.
Auf alle Fälle spricht viel dafür, dass die spezifische Mischung psychischer Effekte bei einer Begegnung mit dem Wasser an frühe Erlebnisse des Individuums bei der Entwicklung seines Ichs erinnert. Auf Erlebnisse, die S. Freud (1930a, S 422) in Anlehnung an einen, von seinem Freund Romain Rolland geprägten Ausdruck das „ozeanische Gefühl“ genannt hat.
S. Freud ortete in diesem Gefühl der Verschmelzung mit dem All, der Grenzenlosigkeit, auch die Quelle des religiösen Gefühls.
Das ozeanische Gefühl, wie es wirklich treffend bezeichnet wird, steht also offenbar am Beginn der psychischen Entwicklung.
Der „Geist Gottes schwebte über dem Wasser“ heißt es schon im alten Testament. Aller Anfang ist nass.
In seiner zehnten Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse, die von der Symbolik im Traum handelt, meint S. Freud, dass Träume in denen man ins Wasser stürzt oder aus dem Wasser kommt, regelmäßig die Geburt darstellen. (1916 – 17, S 160,161)


In zweifacher Weise könne sich dieses Traumsymbol auf eine entwicklungsgeschichtliche Wahrheit berufen. Nicht nur dass alle Landsäugetiere, auch die Vorahnen des Menschen, aus Wassertieren hervorgegangen seien, sondern dass auch jeder Mensch die erste Phase seiner Existenz im Wasser, nämlich als Embryo im Fruchtwasser im Leib seiner Mutter gelebt habe. Fantasien, die durch das Untertauchen im Wasser ausgelöst werden, verweisen also zumindest häufig auf das frühe Auftauchen des individuellen Bewusstseins aus dem seelischen Urmeer der symbiotischen Einheit von Säugling und Mutter. Gelegentlich der Fantasien über Zusammenhänge von Geburt und Wasser führt Freud auch den netten Witz vom intelligenten Judenknaben an, der gefragt wurde, wer eigentlich die Mutter des Moses gewesen sei. Der Knabe antwortet, dass es die ägyptische Prinzessin sei. Als ihm vorgehalten wird, dass diese ja nur das Körbchen mit dem kleinen Moses aus dem Nil gefischt habe, antwortet der Knabe wiederum: „So sagt sie“ – und beweist damit, dass er die richtige Deutung des Mythos gefunden hat.
In unseren Träumen vom Wasser, in zahllosen Mythen, in der Psychose, aber auch in der damit nahe verwandten Verliebtheit werden nun diese Fantasien anschaulich dargestellt.
An einigen Beispielen dieser psychischen Phänomene soll nun der Konflikt zwischen der Sehnsucht, wieder im mütterlichen Ozean zu versinken und der Angst dabei zu ertrinken und sich aufzulösen, verdeutlicht werden.

Im weiteren wird versucht zu zeigen, dass es mitunter gelingt, diesen Konflikt, wie im Traum oder Mythos, durch kreative Kompromisse zu bewältigen. In Psychose und Verliebtheit misslingt oft dieser Kompromiss. Diese Zustände sind deshalb so gefährlich, weil dabei in die Beziehung zum anderen Menschen viele Elemente der symbiotischen Beziehung des hilflosen Säuglings zu seiner Mutter einfließen. Allzu oft erleidet beim Versuch der Bewältigung das Ich des Psychotikers mit seinem schwachen kleinen Boot Schiffbruch im Sturm archaischer Gefühle. Ähnlich ergeht es mitunter den Liebespaaren. Im günstigen Fall geht dabei das Ich baden, im schlimmeren Fall treiben Wasserleichen ans Ufer der sozialen Realität.


Harndrang und Durst im Traum
O. Rank (1912) hat an zahlreichen überzeugenden Beispielen demonstriert, wie Bequemlichkeitsträume, aus dem Wunsch weiterzuschlafen entstehen und häufig als Motiv Harndrang oder Durst erkennen lassen.
Damit knüpft Rank natürlich an S. Freuds Traumdeutung (1900a) an. Beide, Freud und Rank illustrieren ihre Ausführungen zu Harndrang und Träumen von Wasserfluten mit dem witzigen Cartoon, den S.Ferenczi im ungarischen Witzblatt Fidibusz entdeckt hatte.
In seiner umfangreichen Arbeit beschreibt Rank, wie in so genannten Harnreizträumen von Springbrunnen, Toiletten, Bootsfahrten, Überschwemmungen, Regengüssen etc. zunächst der Wunsch zu urinieren dargestellt, danach aber meist doch der Schläfer geweckt wird. Nach erfolgter Entleerung, Rank formuliert meist „auf die kleine Seite gehen“, setze sich der Harnreiztraum übrigens oft als erotischer Traum fort.
G. Roheim steuert 1927 eine Unmenge an Mythen verschiedener Völker zu dieser Thematik bei . Diverse Sintfluten werden durch urinierende Götter hervorgerufen, der Verbindung des Wassers zum Mond, zur Menstruation und Schwangerschaft wird nachgespürt und versucht zwischen individuellen Träumen und Mythen Analogien zu finden.
Ein einziger derartiger Mythos, der die Zusammenhänge von Wasser, Geburt und Schöpfung besonders plastisch schildert, soll nun knapp dargestellt werden, obwohl er sich nicht unter den von G.Roheim berichteten Beispielen findet.

Die Quirlung des Milchmeeres
Die Erschaffung der Welt wird in den meisten Religionen, ebenso wie die Entstehung des einzelnen Kindes, mit dem Wasser, mit einem Urozean verknüpft.
Anschaulich stellt dies der im Hinduismus noch heute lebendige Mythos von der Quirlung des Milchmeers dar.

Der Regen, als flüssige, mütterliche Energie ein milchförmiges Nass, ernährt die Pflanzenwelt, wird auf dem Umweg über die Kühe zur nährenden Milch, die alle Gestalten ständig aufbaut, wie der Leib des Neugeborenen durch den Strom der Muttermilch gedeiht.
Diese Quintessenz, das Amrita der Götter, das Lebenselixier, muss jedoch bei der Erschaffung der Welt eingedickt werden, damit die festen Formen entstehen.
Der gesamte Kosmos ist wie ein riesiges Gefäß, gefüllt mit dieser milchartigen Flüssigkeit. Der Inhalt des ungeheuer großen Butterfasses muss mit einem Riesenquirl (dem Weltenberg) der durch die Weltenschlange gesprudelt wird, zu göttlicher Butter verdichtet werden.

Alle Götter und Dämonen zerren gemeinsam an der ungeheuer großen Weltenschlange, hundert Jahre lang, damit die Milch sich verdicke und alle Wesen, Elefanten, Wildschweine, Bäume, Früchte und Blumen daherwirbeln. (H. Zimmer, 1936)
Die assoziative Verbindung dieser kosmischen Vorgänge mit den Fantasien über die körperlichen Vorgänge der Urszenen von Zeugung und Geburt, aber auch vom Trinken an der Mutterbrust scheint naheliegend
Natürlich könnte man der Quirlung des Milchmeeres im Hinduismus zahllose andere Beispiele hinzufügen.
Nahezu beliebig viele Beispiele ließen sich hier anführen. Vom rituellen Untertauchen oder Übergießen als symbolischer Wiedergeburt, etwa bei der christlichen Taufe, über die profanen Thermen, diverse Heilbäder, Kneippkuren und Whirlpools spannt sich ein weiter Bogen zu Trinkkuren mit Heilwässern, Vitaminsäften, Essenzen oder Elixieren zu inneren und äußeren Anwendung.

Fast überall und immer herrschte in diversen Heilbäder übrigens fröhliches Treiben, das für die Fruchtbarkeit der Frauen sehr förderlich war, getreu dem alten Badespruch:
„Für unfruchtbare Frauen ist das Bad das Beste. Was das Bad nicht tut, das tun die Gäste“.

Die Vorstellung der Fruchtbarkeit und Heilkraft der mütterlichen flüssigen Energie reicht vom Urstoff des Thales von Milet, über die Säftelehre des Hippokrates und das Fluidum bis zur sogenannten

Libido, der Sexualenergie bei S.Freud.(Der Terminus stammt von A.Moll)
Übrigens ist der Herrscher, noch öfter die Herrscherin über das Wasser ist in vielen Kulturen der Mond. Er erzeugt Regen und Gezeiten, bewirkt die Menstruation und die Fruchtbarkeit der Frauen und sorgt für das Wachstum der Vegetation. Aber in diesem Zusammenhang ausführlicher auf die Mondsymbolik mit ihrer periodischen Erneuerung einzugehen, würde den Rahmen sprengen.


Verkörperungen des Wassers
Der Mythos stellt Naturkräfte, Wind, Feuer, Erde und selbstverständlich auch das Wasser in personifizierter Gestalt dar. Meist sind es zunächst Tiere und Fabelwesen, die im Lauf der Zeit immer menschlichere Gestalt annehmen um schließlich zu Begleittieren von Göttinnen und Göttern in Menschengestalt zu werden.
Der Urozean, die Quellen und Brunnen werden in ältester Form durch oft riesige Schlangen, Drachen, Fische oder Frösche verkörpert. Leviathan, Midgardschlange, Muchalindaschlange und das Krokodil des Kasperltheaters oder der Walfisch des Jonas sind fast beliebige Vertreter dieser verschlingenden und zugleich beschützenden Fabeltiere. Leicht lässt sich in ihnen die Gestalt der verschlingenden frühen Mutter erkennen.
In einer weiteren Entwicklungsstufe entwickeln diese Wasserwesen immer deutlicher Menschengestalt. Eine unübersehbare Schar von Mischwesen bevölkert das feuchte Element.
Zwischen Fischen und Seehkühen schwimmen zahllose Okeaniden und Nereiden durch den Ozean.
Im Meer, in Seen, ja sogar in kleinen Teichen und Quellen wimmelt es von Nixen und Nymphen namens Rusalka oder Arielle, von kleinen Seejungfrauen, von singenden Sirenen, von Naginis und zweischwänzigen Wasserweibchen.
Die verführerische Loreley, die schöne Lau und andere aquatische Sagenfiguren haben ihren Fischschwanz bereits abgestreift und gänzlich Menschengestalt angenommen.


Die Entwicklungslinie geht dann weiter, über immer harmloser scheinende Quellnymphen und Brunnenstatuen bis hin zur vielbesungenen erotisch attraktiven schönen Müllerin.
Aber von allen geht doch die leicht unheimliche und zugleich verlockende Melodie der archaischen, mütterlich-inzestuösen Umarmung aus.

Wie gefährlich es sein kann, der Verlockung dieser Melodie nachzugeben, soll am Mythos von Hero und Leander verdeutlicht werden.

Des Meeres und der Liebe Wellen
Eine besonders prominente Vertreterin des schaumgeborenen Geschlechtes ist natürlich Venus bzw. Aphrodite.
Sie gilt als Kind der alles erschaffenden Meergöttin Thetys, viele glauben auch, dass sie aus dem von Kronos abgeschnittenen Penis des Uranos entstand, der im Schaum des Meeres umhertrieb.

Ihre Priesterinnen, die rituell im Meer verjüngende Bäder nahmen, werden in der Fantasie der Göttin, der sie dienen, gleichgesetzt.
Deshalb gilt es als Tabu und wird mit meist tödlichen Strafen belegt, diese Priesterinnen zu lieben, womit wir bei der Titelgeschichte von Franz Grillparzers Trauerspiel „Des Meeres und der Liebe Wellen“ angelangt wären, einer der vielen Varianten der antiken Sage von Hero und Leander. (Grillparzer, 1960 – 1965, Uraufführung des Trauerspiels am 3.4. 1831)

Die unter anderem von Ovid und Musäus überlieferte Sage diente Hölderlin, Schiller und auch Grillparzer als Vorlage für ihre Dichtungen.
In aller Kürze zusammengefasst: Der Jüngling Leander verliebt sich in Hero, eine Priesterin der Aphrodite. Geleitet vom Schein einer von Hero ins Fenster gestellten Fackel durchschwimmt er zum Rendezvous den Hellespont, die heutigen Dardanellen, wo ja noch immer ein angeblicher Leanderturm gezeigt wird.

Heros erboster Onkel löscht die Fackel aus, Leander ertrinkt, seine Wasserleiche wird ans Ufer gespült und Hero folgt ihm in den Tod. Unschwer lässt sich die Story aus psychoanalytischer Sicht deuten:

Die grenzenlose Liebe ist, wie bereits gezeigt, mit archaischen Elementen des tabuisierten Mutterinzestes durchsetzt. Die frühesten Varianten dieser inzestuösen Wünsche wiederum werden von unbewussten Fantasien von über das Eintauchen und Ertrinken in Wasserfluten begleitet.
Aphrodites Vertreterin, Hero darf nicht von einem irdischen Jüngling geliebt werden, weil Aphrodite auch die göttliche, aus dem gemeinsamen Urozean auftauchende Mutter verkörpert. Der gestrenge Onkel verkörpert als Stellvertreter den strafenden Vater in einer frühen Variante der Triangulierung.
Das Liebespaar, geht zu Grunde, wie Romeo und Julia, Pyramus und Thisbe und zahllose andere.
Übrigens passt Grillparzers lebenslängliche Angst eine feste Bindung einzugehen recht gut zu seiner Faszination für das Motiv von „Des Meeres und der Liebe Wellen“

Noch etwas allgemeiner kann man festhalten : je archaischer die Göttin oder Dämonin des Wassers ist, je deutlicher bei ihr die Züge des Wassertieres hervortreten, desto stärker wird ihr verschlingender Sog, desto schriller und unabweisbarer ihr Sirenengesang, desto gefährlicher und tödlicher ihre Umarmung. Beim romantischen Liebespaar, das sich sentimental bei Sonnenuntergang am Meeresstrand küsst, ist der ganze archaische Zauber symbiotischer Verschmelzung bereits ziemlich gezähmt, aber für ein feines Ohr doch als leise, bedrohliche Hintergrundmusik hörbar.

Wasserspiele eines Psychotikers
In psychotischen Zuständen ist die Verbindung der Wassersymbolik mit der Sehnsucht und gleichzeitigen Angst in den Körper der Mutter zurückzukehren oft mit besonderer Deutlichkeit spürbar, viel offensichtlicher als in der Verliebtheit. Die Psychose stellt gewissermaßen einen kreativen Kompromiss zwischen zwei intensiven, aber gleichermaßen tödlichen Wünschen dar. Einerseits der inzestuöse Wunsch in die Mutter hinein zurückzukehren, andererseits der Wunsch sich zu verselbständigen.

Besonders anschaulich stellen die genialen Inszenierungen des großen Malers August Walla diesen Konflikt handlungssprachlich dar (Danzinger, 2007) :
August Walla verhüllte sich, übrigens bevorzugt am Donauufer, im Schwimmbad oder Badezimmer, also nahe dem Wasser, mit einer Decke. Dann forderte er seine Mutter auf, ihn zu fotografieren. In dem Augenblick, in dem sie den Auslöser betätigte, ließ er die Decke fallen und das Bild seines nackten Körpers gelangte durch das Objektiv der Kamera und die Pupille der Mutter in das Innere des mütterlichen Körpers, in den er sich mit aller Kraft seiner starken Fantasie zurücksehnte.

Übrigens spielte die Bedeutung die er dem Brunzen, Wischerln, Schiffen, Urinieren, Luluen usw. gab ebenso wie die Leibhalluzination eines verdoppelten Penis für ihn eine eminente Rolle. Aus den beiden Röhren seines vermeintlichen Doppellulu strömten seiner Meinung nach Honiglulu und Kondensmilchlulu aus zwei verschiedenen Röhren in die eine und selbe Blechkanne, in die auch seine Mutter urinierte. (Übrigens wäre August Walla so gerne einmal nach Honolulu gereist, erinnerte ihn doch das Wort an „Honiglulu“)
Bekanntlich lebte August Walla mit seiner Mutter in enger Zweisamkeit zusammen und tat nie einen Schritt fort aus dieser Beziehung hin zu anderen Frauen.
Die weitgehende Erfüllung seines psychotischen Wunsches als ewiges Kind quasi in der Mutter zu bleiben, bezahlte der Künstler mit der Verwerfung (forclusion) der symbolischen Kastration , der Verleugnung reifen Wissens über die Geschlechterdifferenz und diversen realen Äquivalenten der Kastration. (J.Lacan, 1997b) Beispielsweise entfernte er mit einem selbstgebrauten Bartenthaarungscocktail aus Germ, Salmiak, alten Brotrinden und dem Waschmittel Ariel sorgfältig seine Barthaare um nicht männlich auszusehen.

Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit über die symbolische Bedeutung der Gewässer sei aber lediglich noch die elementare, religiöse Verehrung der Donau durch Walla hervorgehoben. Auf vielen seiner Bilder wird sie als „Dänuvius Fluvius“ personifiziert dargestellt. Gerne und oft ging er ein paar Stunden an ihr Ufer,

hielt die Hand ins Wasser oder kauerte sich sogar in die Fluten und verweilte träumerisch in dieser Stellung.
Unwillkürlich fühlt man sich durch diese Aktion an die Wallfahrt frommer hinduistischer Pilger an das Ufer des Ganges, der großen Mutter Ganga erinnert. Auch diese Pilger fantasieren beim Untertauchen in die mütterlichen Fluten Heimkehr,Tod und Wiedergeburt.

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