Dienstag, 18. September 2012

Kyoto, die Stadt mit den vielen Zeitlöchern




In manchen Städten, besonders in solchen mit reicher und abgründiger Vergangenheit, erlebe ich immer wieder, dass die scheinbar solide Fassade der aktuellen Wirklichkeit dünner wird, durchsichtiger, dass ich stolpere und mich ein paar Schritte in eine andere Zeit, eine längst vergangene Welt verirre.
Kyoto, die alte Kaiserstadt, scheint mir von derlei Zeitlöchern übersät zu sein, was sich auch bei unserem heurigen Besuch zeigte.
Irgendwie scheint der kontinuierliche Faden der linearen Zeit  immer wieder zerrissen. Diese Zerreißbarkeit der Zeit bleibt mir spürbar, auch wie wir in Kyoto eingetroffen vor dem von Hara Koji geplanten Bahnhofsgebäude ein Taxi besteigen und durch die Hauptstraßen einer auf den ersten Blick nichtssagenden, modernen Stadt fahren. Dabei weiß ich doch schon aus der Erinnerung, welch geheimnisvolle Gärten und Tempel, welch unwirklicher Zauber sich hinter diesen Häuserzeilen verbirgt.
Beim Überqueren des Kamoflusses wird die nichtssagende Gegenwart kurzfristig transparent. Vor den im Mittagslicht schläfrig und fad wirkenden Restaurants von Pontocho stolziert im Fluss, zwischen ein paar Schilfinseln ein Reiher umher. Vielleicht derselbe Reiher den wir ein paar Tage später am goldenen Pavillon des Kinkaku Ji sehen.
Der Taxilenker erzählt unterdessen, dass er auch eine Tauchschule betreibe und ich versuche den Scherz, dass Florian und ich als Psychoanalytiker gewissermaßen auch Taucher seien, im seelischen Meer sozusagen, he he. Aber ich bin unsicher ob der matte Witz nicht eh in den Problemen der unermüdlichen Übersetzung Junkos hängen geblieben ist.
Das nächste irgendwie unwirkliche Erlebnis ist der Besuch im winzig wirkenden Wohnzimmer hinter der ohnedies kleinen Apotheke Chizukos.
Die liebenswürdige Chizuko und ihre Mutter, finden ohnehin kaum Platz zwischen den Gläsern, Pillen, Dragees und Salben, zwischen Vitaminsaftflaschen und Antibiotika. Dazu kommt aber noch die Kücheneinrichtung, zahlreiche Erinnerungsstücke, vor allem vom geliebten Wien. Es grenzt an ein Wunder, dass wir zu fünft, nach Ablegen der Schuhe und Überwindung einer kleinen Treppe, auch noch in die Hexenküche hineinpassen. Aber dann klappt es sogar mit Tee , selbstgebackener Linzertorte und einem Gespräch über die Wiener Philharmoniker.
Der geheimnisumwitterte Garten Hekates auf der Kolchis erscheint in meiner Fantasie, dieser Garten, in dem neben den Heilkräutern auch todbringende Giftpflanzen wachsen.
Im Vergleich mit dieser Hexenküche wirkt sogar das Holzhaus in einer engen, altertümlichen Gasse, nur ein paar Schritte entfernt, weiträumig.
Es handelt es sich um ein sogenanntes Aalhaus, weil es sich von einer sehr schmalen Fassade relativ weit nach hinten erstreckt, wie die Häuser alter burgenländischer Dörfer.
Auch das Ryokan der Vermieterin, gleich daneben, ist ein derartiges Aalhaus, angeblich war es früher ein erotisches Teehaus für Geishas. Die Vermieterin meint, sie habe auch viele vergilbte Fotografien des lüsternen Treibens in der Vergangenheit gefunden, uns zeigt sie allerdings nur die Porzellankatze, die auf einem verhüllten Penis kauert, der jedoch zu sehen ist, wenn man die Statuette mit der Katze umdreht.
Während ich, mit ein wenig geheuchelter Begeisterung das zweite Frühstück, bestehend aus ungesalzenem Reis, Misosuppe, Essiggemüse, Yuba, Tofu und diversen undefinierbaren Geheimspeisen hinunterwürge, begleitet von Lenas Geklimpere auf einer Spielzeuggitarre, denke ich mit leiser Wehmut an Burgi und Florian, die in einem nahegelegenen, eher europäischen Kissaten, auf Sesseln sitzend einen Kaffee schlürfen.
Wir verzichten darauf, uns vom Balkon des Kyomizu Dera herunterzustürzen, bummeln abends noch zum Yasakaschrein und zum Tor des Shoren in und träumen beim Duft der Tatamis vom alten Kyoto.
Für Dienstag hat Hirohisa Mori, ein Schulfreund Junkos, auch eine Erscheinung aus dem Zwischenreich außerhalb der kompakten trivialen Realität ein Spezialprogramm zusammengestellt. Es war sehr schmeichelhaft für mich, dass er mir sein 706 Seiten  starkes, sicher 1kg schweres Werk über „Gobalbase Architecture“ zusandte, voller Bilder und komplizierter mathematischer Formeln.
Vom elegant livrierten Chauffeur werden wir im komfortablen Kleinbus zur Besichtigung der Katsura-Kaiservilla gefahren. Während der Führung durch den unglaublichen Garten mit seinen alle paar Schritte wechselnden, traumhaften Ausblicken wird ein Teil der Gruppe zum Matsuo-Schrein geführt, wenn ich es recht verstehe ein irgendwie den Teufeln des Sake verbundenes Heiligtum.
Imaginäres und Reales beginnen verstärkt zu oszillieren, bewegen wir uns durch ein Landschaftsaquarell, eine Ukioye oder haben wir, spätestens in der Kakiplantage und bei der schlitzäugigen Wirtin schon wieder festen Boden unter den Füßen?
Gegen Abend erwartet uns an der Togetsubrücke in Arashiyama der dämonische Kobold Prof. Monta Hayakawa. Die Lippen von einem dezenten Shunga-Lächeln umspielt ,erinnert er mich mit seinen buschigen Augenbrauen und Katzenaugen sofort an den Advokaten Coppelius in ETA Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“, über die ja S.Freud seinen Aufsatz über das Unheimliche verfasst hat.
Um uns zu Verzaubern, hat er eine Bootsfahrt auf dem Oi-Fluß geplant, die jedoch, infolge eines Wolkenbruches buchstäblich ins Wasser fällt.
Unverzagt führen er und Mori unsere kleine Gruppe in eine Taverne am Flussufer von der aus man unter roten Lampions einen Ausblick auf den im Regen dahinströmenden Fluss genießt. Nach diversen, teils englischen, teils von Junko immer wieder übersetzten fragmentarischen Unterhaltungen, nach Kaffee, Machaeis und einer kleinen Tangoperformance auf der vorgelagerten Terasse, wird die so genannte Führung durch den magischen Hayakawa-Coppelius fortgesetzt.
Ein Gedenkstein für die schöne Akashi no Kimi, die dem Prinzen Genji ein Mädchen geboren hatte, mit dem sie sich versteckte und dann, was für romantische Story!, von einem Diener mit Hilfe einer Kennmelodie, mir scheint auf Flöte, oder war es eine Koto?, aufgespürt wurde, beeindruckt den, mit derlei traditionellen Legenden vertrauten Florian offenbar besonders.
Mir gefallt Hayakawas Behauptung, dass bei einem Konzert im Tenryu Ji, vor dem großen Karpfenteich, das er zu ehren einer ausländischen Delegation veranstaltete, die Fische bei ganz bestimmten Flötenpassagen aus dem Wasser zu springen begonnen hätten.
Durch den berühmten, milchig-blaugrünen, verregneten Bambushain, vorbei an kleinen Shintoschreinen die zinnoberrot im Regen glänzen, über die Gleise der Kleinbahn und durch die Vorstadt führt der ständig lächelnde , aber doch unheimliche Magier uns in Richtung zum großen grünen Affenberg. Die Häuser verlieren sich, die Gruppe zerstreut sich immer mehr, der Regen nimmt zu und schließlich bleiben wir im Niemandsland vor einem großen Acker, in dessen Furchen sich das Regenwasser gesammelt hat stehen. Was ist los denke ich - da weist Hayakama auf ein kaum sichtbares, bemoostes Strohdach, halb unter alten Bäumen verborgen, das man in der Dämmerung gerade noch hinter dem Acker erkennen kann.
Das sei die letzte Rast des ruhelosen Dichtermönches Basho gewesen, wo er vor seinem Tod bei einem Freund gewohnt habe.
Ich spüre, wie ich wieder einmal den trügerischen Boden der Gegenwart unter den Füßen verliere, wieder in ein Zeitloch geraten bin, von diesem Shunga-Dämon in die Falle geführt.
Das letzte Haiku des poetischen Landstreichers Basho aus einer Anthologie, die ich als Reiselektüre mitführe, fällt mir ein :

Vom Wandern krank
Auf ödem Feld
Irrt mein Traum umher

Zur Erholung von dieser gelungenen Erschütterung führt uns der katzenäugige Kobold in sein eigenes Häuschen um uns bei Tee die Blumenaquarelle seines verstorbenen Vaters zu zeigen, seines hochverehrten Vaters, der angeblich 1000 Wakas auswendig kannte.
Danach übersiedeln wir in das noble Restaurant Togetsutei dessen große Glasfenster sich zum Fluss und zur alten Brücke hin öffnen. Bei einem komplizierten und vielfältigen Menü werden wir von Mori mit Huroshiki Tüchern, in die unsere Namen gestickt sind, beschenkt.
Tags darauf starten wir zum klassischen Kyoto-Tempel-Marathon. Vom Nanzen Ji geht es über den Philosphenweg zum Gingaku Ji , wo uns Junko und Lena nach dem Mittagessen verlassen.
Aus dem Wunsch, mit Florian und Burgi möglichst viel von Kyotos reichen Schätzen zu besichtigen, fahren wir zum Daitoku Ji wo schon die stillen meditativen Steingärten mit ihrer hintergründigen Symbolik zu Innehalten auffordern.
Aber Rainer treibt weiter, es geht auch noch zur wichtigsten Ikone des touristischen Kyoto- Marathons, zum goldenen Pavillon Kinkaku Ji. Beim Galopp durch dessen weitläufigen Garten spüre ich, dass Burgi ab und zu, trotz aller Begeisterungsfähigkeit, genug davon hat, von Tempel zu Tempel gezerrt zu werden. Vermutlich ist sie doch daran gewöhnt programmatische Verantwortung für ihre zeitweise große, eigene Familiengruppe zu übernehmen und es fällt ihr nicht immer leicht, mit wenig Mitbestimmung als Reisegruppen-Mitläuferin passiviert zu werden. Aber das ist Spekulation, jedenfalls kann ich mir gut vorstellen, dass ich, Rainer, von mir selbst ziemlich genervt wäre, würde ich in ihrer Haut stecken.
Leider nur tangential nehmen wir das reizende kleine Teehaus mit seinem bemoosten Strohdach, dem alten Holz und der bukkolischen Stimmung wahr. Dabei gilt es als Prototyp der japanischen Wabi-Sabi-Ästhetik.
Wabi die traurige, einsame Verlorenheit, etwa der blühende Kirschzweig der mit Schnee bedeckt, friert, Sabi bekanntlich so etwas wie Rost oder Patina, auch die Spuren des Gebrauches durch die menschliche Hand, das Abgetragene eines alten Kleidungsstückes etwa.
Gerade für diese Botschaften, die wir ja von der Anakreontik über die Schäferspiele des Rokoko bis hin zur Romantik wohl auch kennen, finden wir in unserem Besichtigungsgalopp keine Muße.
Erst im nächsten Taxi erfahren wir, dass in den weiteren angepeilten Tempeln – gottseidank – bereits Sperrstunde ist und so steigen wir beim Heian Ji aus, schlendern von dort eher müde vorbei an den knorrigen Kampferbäumen am Shoren in heim ins Ryokan.
Auf dem Weg zum Abendessen durch die Gion-Strasse sehen wir wieder Gespenster vergangener Zeit, Geishas und Maikos in Kimonos mit kunstvollen Frisuren huschen vorbei, wir gehen bis ans Flussufer nach Pontocho, können aber wegen der kühlen Brise doch nicht im Freien essen.
Der Pilgerweg durch die tausend rotlackierten Torii auf dem Berg hinter dem Fushimischrein führt uns auch zurück von Kyoto in die ältere Epoche Nara.
Die steile, letzte Schlinge dieses einzigartigen Pfades gehen nur Florian und ich während Junko und Burgi mit Lena im  Schatten des Waldrestaurants bleiben.
Unter den magischen Toren, von den Inari-füchsen bewacht erzählt Florian mir ein wenig von seinem schwierigen Werdegang durch die Initiationstore der jungianischen Schweizer Analytiker, was mich in meinem Widerwillen gegen diese  monopolitischen, wichtigtuerischen Ausbildungsgesellschaften wieder einmal bestärkt.

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